Heinz Heidt

 

Vae victis!

 

Die Kriegsgefangenenlager Brilon und Remagen

 

Es ist schon eine eigenartige Situation: alle, die sich an diesem schönen Frühlingstage des Jahres 1945 auf einem Bauernhof "In der Bremke" am Südrand der Stadt Iserlohn aufhalten, tragen die Uniform der Deutschen Wehrmacht und sind dennoch keine Soldaten! Das ist die Folge des "Demobilisierungsdekrets", das Generalfeldmarschall Walter Model eigentlich für den 17.April erlassen hat, und das wegen der Zuspitzung der Lage bereits am 15.April wirksam geworden ist. Darin hat er als Oberbefehlshaber aller im Ruhrkessel eingeschlossenen deutschen Truppen die Auflösung der Heeresgruppe B verfügt, so daß wir seit gestern sozusagen Zivilisten in Uniform sind.

 

Nun sitze ich nach dem Frühstück, das uns die ebenfalls hier untergebrachte Feldküche des - seit gestern "ehemaligen" -  Panzerartillerieregiments 146 bereitet hat, mit Martin Schmidt aus Dormagen und Karl-Heinz Baumgart aus Iserlohn an der Straßenböschung im Grase und erörtere mit ihnen die neue Lage. Wir sind zusammen zur Heeresflak-Ersatz- und Ausbildungsabteilung 276 einberufen worden und am 26.August 1943 nach Hamm in die Argonnerkaserne eingerückt. Seit dem 19.Juni 1944 waren wir Angehörige der 1.Batterie der Heeresflak-Abteilung 281, haben seitdem im Rahmen der 116. Panzerdivision das Schicksal dieser Einheit geteilt und sind nach einer wahren Irrfahrt durch den Ruhrkessel am letzten Samstag (14.04.) schließlich hier angekommen. Gestern hat uns unser Batteriechef, Oberleutnant Hans Wilhelm, über den Stand der Dinge unterrichtet und uns anheimgestellt, ob wir versuchen wollten, uns in unsere Heimat durchzuschlagen oder hier die Übergabe an die US Army abzuwarten. Doch selbst Karl-Heinz, der hier zu Hause ist, hat es vorgezogen, im Verband der alten Einheit zu bleiben.

 

So sitzen wir also in der Morgensonne und harren der Dinge, die da kommen sollen. Dabei wundern wir uns über die himmlische Ruhe, die uns beinahe unheimlich vorkommt. Wir hören nämlich keinerlei Kampfgeräusche. Das ist auch nicht verwunderlich, denn in der Nacht hat Generalleutnant Fritz Bayerlein, der Kommandeur des LIII. Armeekorps und ranghöchste deutsche Offizier in dieser Gegend, mit General Hasbrook, dem Kommandeur der 7.US-Panzerdivision, die Übergabe der über 30.000 Soldaten des östlichen Ruhrkessels und eine Waffenruhe vereinbart, die heute morgen um 3.00 Uhr in Kraft getreten ist.

 

Wir haben alles, was wir nicht entbehren möchten, als "leichtes Marschgepäck" zusammengestellt und auch gleich hierhin mitgebracht, beobachten nun gespannt die Straße nach Norden und Süden und warten, ob sich dort etwas tun wird.

 

"Ob heute wohl die Amis kommen?" meint Martin, der von uns dreien in der Mitte sitzt.
"Wer weiß! - Aber ich glaube es schon", antworte ich, bevor Karl-Heinz etwas dazu sagen kann.. Dann starrt jeder vor sich hin und hängt seinen eigenen Gedanken nach. Gegen 9 Uhr entsteht plötzlich Unruhe auf der Straße. Wir sehen einen Pulk Soldaten von Norden her aus der Stadt zu uns heraus kommen.

 

"Du, Martin!" Mit diesen Worten stoße ich meinen Nachbarn an und wecke ihn aus seinen Tagträumen. "In der Mitte hat einer einen Stahlhelm auf! Ob die wohl einen Ami gefangengenommen haben?" Im Näherkommen läßt sich der Haufen durchschauen, und wir sehen zu unserem nicht geringen Erstaunen, daß der Mann mit dem Stahlhelm ein Ami im Kampfanzug und voll bewaffnet ist. Wir können auch beobachten, daß er mit der Hand den deutschen Soldaten, die wie wir am Straßenrand sitzen oder stehen, ein Zeichen gibt. Er ist von einem ganzen Trupp unbewaffneter deutscher Landser umringt, die mit ihm die Straße entlang kommen. Als die Gruppe näher herankommt, hören wir auch, was der Ami ständig sagt, nämlich: "Come on, come on,.."

 

Mit diesen Worten geht er auch an uns vorbei die Straße entlang und winkt uns zu sich heran. "Wat säd dä?" fragt Martin in seinem "Kölschen" Dialekt.

"Der will uns holen", kläre ich ihn auf.

So packen wir unser Bündel, treten auf die Straße hinaus und gehen nach Norden auf die Stadt zu. Etwa fünfzig Meter hinter dem ersten Ami kommt der nächste und macht uns mit Worten, die wir nur teilweise verstehen, aber auch mit eindeutigen Gesten klar, daß wir auf eine Wiese gehen sollen, die hier an die Straße grenzt. Dort sehen wir schon eine Menge Soldaten verschiedener Einheiten stehen.

 

Als alle Uniformträger aus der ganzen Umgebung auf dieser Koppel versammelt sind, ertönt der Ruf: "Polacks!"

 

Auf amerikanischer wie auf deutscher Seite gibt es eine Anzahl Polen, die bisher gegen einander gekämpft haben. Bei uns hießen sie "Wertungsgruppe III", was bedeutete, daß sie zwar nicht eindeutschungsfähig waren, aber ihre Arbeitskraft - und damit auch ihr Einsatz in der Wehrmacht - genutzt werden konnte. Sie haben oft Unmut ausgelöst, weil sie uns anderen ständig vorgezogen und auch früher als wir zu Gefreiten und Obergefreiten befördert wurden, obwohl ihre Zuverlässigkeit und Kampfmoral oft sehr zweifelhaft waren.

 

Nun treffen sich die Polen beider Seiten und fangen an zu palavern. Nach einer Weile fragen sie an, ob unsere Fahrzeuge fahrbereit sind. Wahrheitsgemäß erzählen wir ihnen, daß wir sämtliche Verteilerköpfe ausgebaut und in einer Kiste vergraben haben, daß die Kiste aber leicht wieder ausgebuddelt werden kann und die Fahrzeuge in kurzer Zeit wieder flottgemacht werden können.

 

So werden die Fahrer losgeschickt, um ihre Fahrzeuge wieder fahrbereit zu machen. Danach wird die übrige Versammlung aufgelöst und alle kehren zu ihren Fahrzeugen zurück, die sich nun auf der Straße in Marschkolonne aufzustellen haben.

 

Als wir den Fernsprechwagen wieder besteigen können, gehen wir daran, Waffen und Geräte unbrauchbar zu machen, eine völlig sinnlose Tätigkeit in Anbetracht der Tatsache, daß die Amerikaner mit Kriegsgerät aller Art aufs üppigste ausgerüstet sind, so daß sie für unsere Ausrüstung nur Verachtung übrig haben. Aber uns befriedigt es irgendwie, die Karabiner zu zerschlagen, die ohnehin nur auf dem Stirnschrank gelegen haben und dort verstaubt sind.

 

Gleich hinter unserem Fernsprechwagen liegt eine Vier-Meter-Basis, die frisch geliefert sein muß, in Originalverpackung - einer beigefarbenen Blechkiste. Sie sollte sicher als neues Herzstück in  ein Kommandogerät eingebaut werden, hat aber wohl ihre Zieleinheit nicht erreicht und ist auf dem Transport einfach hier in den Straßengraben geworfen worden. Als ich gerade den ersten Feldfernsprecher dagegen schmettere, daß er zersplittert, taucht plötzlich unser früherer Kommandeur, Major Beug, auf und sagt, daß sämtliches Gerät unbeschädigt an die Amerikaner zu übergeben ist.

 

Da höre ich schon einen Ami, den ich im Eifer des Gefechtes gar nicht herankommen gesehen habe, hinter mir rufen: "You Ess Ess?"

Er könnte einem Western entsprungen sein, denn er ist eine Furcht einflößende Erscheinung, ein echter "warrior" mit schwarzem Schnauzbart in einem gelbbraunen Gesicht. Er ist bekleidet mit einem Stahlhelm mit Tarnnetz, einer Lederjacke mit Lammfellfutter und einer Tarnhose, die in Oversea-Boots steckt. Quer über die Brust von der rechten Schulter zur linken Hüfte trägt er einen Munitionsgurt. Sein langes Gewehr hält er im Anschlag auf einen jungen Leutnant gerichtet, der in nagelneuer schwarzer Panzeruniform neben dem Fahrer auf einem Steyr sitzt.

 

Der junge Mann ist kreideweiß im Gesicht und bringt kein Wort heraus. Mir ist sofort klar, daß hier etwas geschehen muß, bevor ein Unglück geschieht. Also krame ich mein bestes Schulenglisch hervor und stottere so etwas wie: "No SS, armoured Division! Panzer-troopers wear black uniforms too!" Dann kommt mir die erlösende Idee: ich zeige auf den Hoheitsadler über meiner rechten Brusttasche und sage: "Look at the eagle! It is here - not at the arm!"

 

Zum Glück hat er mich trotz meiner Aufregung gleich verstanden, denn er verzieht sein Gesicht zu einem breiten Grinsen, setzt sein Gewehr mit dem Kolben auf die Erde, nickt dem jungen Leutnant zu und sagt: "Okay boy, it's okay!"

 

Dann nimmt er sein Gewehr hoch, sichert es, fährt mit dem rechten Zeigefinger an seine Lippen, als ob er sie anfeuchten wollte, streicht dann mit ihm über Kimme und Korn und verkündet den Umstehenden: "If I see Ess Ess, I kill'em all!"

 

So wie er da vor uns steht, haben wir nicht den geringsten Zweifel, daß er das ernst meint. Damit ist aber die kritische Phase vorüber, denn nun wird er fast leutselig. Voller Stolz zeigt er uns sein riesiges "rifle" und seine übrige Ausrüstung. Vor allem erklärt er uns, wieviele Patronen in die Kammer passen und wieviele er noch in den Taschen des Gurtes hat, den er quer über die Brust trägt. Das Wichtigste für ihn ist aber, daß wir erkennen, daß er Amerikaner ist und wir ihn auf keinen Fall mit einem Engländer verwechseln sollen. Die Briten seien nämlich "no good". Dann zieht er eine Packung "Camel" aus der Brusttasche und weist darauf hin, daß es "American cigarettes" und der Kaugummi in seiner Backe "American chewing gum" seien. Die Engländer, die er als "needy limeys" (arme Limonenfresser) bezeichnet, seien bei weitem nicht so gut ausgerüstet wie die Amerikaner. Später können wir uns davon überzeugen, daß er nicht übertrieben hat.

 

Nachdem wir uns seine Prahlerei eine Zeitlang angehört haben und er auch uns einmal zu Worte kommen läßt, fragen wir ihn, wie es denn nun mit uns weitergehen soll. Das wisse er auch nicht, sagt er uns, da müßten wir auf einen Offizier warten, der bald kommen und alles regeln würde.

 

Während sich einige weiter mit diesem Prachtexemplar eines "American soldier" unterhalten - vielleicht in der Hoffnung, daß sie doch noch eine Zigarette von ihm ergattern können - legen wir vom Fernsprechtrupp uns in der Nähe des Fernsprechwagens an der Straßenböschung ins Gras und beobachten das bunte Treiben, das sich auf der Straße entfaltet, nachdem ein Kamerad vom leichten Flakzug seine Klampfe herbeigeholt hat. Im Nu ist eine Gruppe von Landsern um ihn versammelt, und sie singen - wie es scheint, zur Belustigung der Amerikaner - Volkslieder und Schlager wie "Vagabund sein im Lande der Liebe" oder "Heut' ist Spatzenkonzert". Einige GIs (Government Issue = Regierungsausgabe, Scherzwort, das unserem "Landser" entspricht) gesellen sich hinzu, lachen und treten mit den Füßen den Takt der Lieder mit.

 

Neben mir läßt sich ein älterer Amerikaner nieder und beginnt eine "K-Ration" zu verzehren. Ich spreche ihn an und versuche, eine Unterhaltung in Gang zu bringen. Er geht bereitwillig darauf ein und erzählt mir, daß er Holländer von Geburt ist, seine Muttersprache aber fast völlig verlernt hat. Vom vielen Laufen der letzten Tage sei er hundemüde und seine Füße täten ihm weh, es würde allmählich Zeit, daß dieser "goddamn war" zu Ende ginge und er nach Hause zurückkehren könne. Auf meine Frage, wie viele solcher Verpflegungspäckchen er denn bekomme, antwortet er: "Three rations a day, sometimes four" - dabei kann er aber auch gesagt haben "sundays four", so genau habe ich ihn nicht verstanden - , denn die US-Army habe "lots of food".

 

Das war also die Gefangennahme, der wir mit sehr gemischten Gefühlen entgegengesehen haben. Niemand mußte die Hände hoch heben und niemand wurde mit einer Waffe bedroht. Die Amerikaner zeigten sich bei der Übernahme unserer Einheiten äußerst korrekt und fair, ja diese einfachen Soldaten der 99. Infanteriedivision waren geradezu kameradschaftlich und kumpelhaft. Es war keine Spur von Feindseligkeit festzustellen, eher zeigten sie Verständnis und zuweilen auch Mitleid mit uns in unserer augenblicklichen Lage.

 

Für uns ist diese Begegnung mit den Amerikanern eine ganz neue Erfahrung: Frontsoldaten verstehen sich eben, keiner sieht im anderen seinen persönlichen Feind. Alle wissen, daß niemand freiwillig hier ist, und so sind die vielen Veteranentreffen nach dem Kriege durchweg vom Geiste der Kameradschaft getragen und dienen dem Austausch und der Erzählung  gemeinsamer Fronterlebnisse. Doch es gibt nicht nur Frontsoldaten! Mit den anderen stehen uns noch etliche äußerst unliebsame Begegnungen bevor.

 

Nachdem wir uns über eine Stunde lang mit den US-Infanteristen unterhalten haben, kommt endlich auch ein Offizier - ein junger Oberleutnant - mit näheren Weisungen aus der Stadt zu uns heraus. Er läßt uns unsere Fahrzeuge besteigen und fordert uns auf, ihm zu folgen. Er fährt mit seinem Jeep voran und führt unsere Abteilung nach Iserlohn in eine Flakkaserne. Hier können wir Kaffee und Essen bekommen, denn die Küche hat noch gekocht und die Kessel sind voll.

 

Nach und nach finden sich die einzelnen Verbände in der Kaserne ein. Wir können uns im Kasernenbereich frei bewegen. Auch an den Toren stehen keine Posten. Offenbar hält man das nicht für erforderlich, weil keine einzelnen Soldaten, sondern geschlossene Gruppen übergeben worden sind, die zusammenbleiben und Disziplin bewahren. Noch ist die Stimmung gut. Wir sind satt und ausgeruht, und auch den Rauchern sind die Zigaretten noch nicht ausgegangen.

 

Gegen 18 Uhr heißt es dann wieder: "Aufsitzen!" Im gewohnten Truppenverband bewegt sich unsere Abteilung in nördlicher Richtung und fährt bis zu der Gemeinde Griesenbrauck, wo sich die Einheiten der 116. Panzerdivision sammeln sollen. Auf den Kuhweiden beiderseits der Landstraße stehen bereits eine Menge Fahrzeuge mit dem Windhund-Emblem, dem Erkennungszeichen unserer Division. An den weiteren taktischen Zeichen erkennen wir Fahrzeuge der Panzergrenadierregimenter 60 und 156, des Panzerartillerieregiments 146, der Nachrichtenabteilung 228 und auch des Pionierbataillons 675, die alle zum Divisionsverband gehören.

 

Gegen Abend wird der Befehl ausgegeben, daß wir uns zum Übernachten in und unter unseren Fahrzeugen einrichten sollen. Dazu kann aus einem nahegelegenen Bauernhof Stroh geholt werden. Verpflegung wird nicht ausgegeben, weil wir uns am Mittag auch mit Brot und Salami eindecken konnten, und viele auch noch Kaffee in ihrer Feldflasche haben. So richten wir vom Fernsprechtrupp uns unter dem Fernsprechwagen ein Lager her, nur Paul Gueffroy und Walter Hahn, die beiden Ältesten, machen es sich im Wagen selbst bequem. Unser Fahrer ist klein genug, um im Führerhaus zu übernachten. Bis zum Einschlafen unterhalten wir uns über diesen denkwürdigen Tag, wie wir, statt zu kapitulieren, einfach der US Army überstellt worden sind und daß eigentlich alles bei weitem nicht so schlimm war, wie wir es uns vorgestellt hatten. Auf jeden Fall ist der Krieg für uns zu Ende und wir brauchen nicht mehr unmittelbar um unser Leben zu bangen.

 

Am Dienstagmorgen (17.04.) fährt dann die Division geschlossen nach Sümmern, wo provisorisch ein riesiges Auffanglager eingerichtet worden ist. Auf einer großen Viehkoppel stehen Hunderte deutscher Militärfahrzeuge, auf einer anderen erblicken wir eine Herde von Wehrmachtspferden, auf denen einige Amis ihre Reitkünste vorführen. Wir haben gar nicht gewußt, daß es - außer bei den Gebirgsjägern - 1945 noch bespannte Heereseinheiten gab.

 

In der größten Koppel aber stehen die Landser, eine kaum zu übersehende Masse von Köpfen und Leibern in grauen Uniformen. Im Straßengraben liegen an der Böschung mehrere tote deutsche Soldaten, andere sitzen daneben und frühstücken. Wohl dem, der mit seiner Verpflegung sparsam umgegangen ist und nun noch etwas zu verzehren hat!

 

Die lange Fahrzeugkolonne unserer Division bleibt zunächst auf der Straße stehen, und wir bleiben in unseren vertrauten Fahrzeugen sitzen. Nur sehr langsam löst sich der Verband auf. Die Fahrzeuge werden einzeln auf eine freie Viehkoppel dirigiert, und dort erleben wir die erste unliebsame Überraschung. Hier sind keine Frontsoldaten mehr und der Umgangston der Amerikaner wird barsch und rücksichtslos. Es herrscht kein normaler Umgangston mehr, wir werden nur noch angeschrieen und kommen uns vor wie eine Viehherde, die ihren Treibern auf Gedeih und Verderb ausgeliefert ist.

 

Es beginnt damit, daß wir unsere Fahrzeuge verlassen müssen und damit das letzte Stück Geborgenheit verlieren. Wir dürfen nur ein Gepäckstück behalten, was wir als reine Schikane empfinden, zumal uns kein Grund dafür genannt wird. Wir werden von einer großen Zahl mit kurzen Gewehren oder Stöcken bewaffneter Soldaten umringt, und mit den ständig in jeder Lautstärke wiederholten Rufen "Let's go! Mack snell, Kamerad, mack snell!" werden wir zur Eile angetrieben. Wer sich nicht schnell genug von seinen Habseligkeiten trennen kann, dem werden die Sachen einfach weggerissen. Gibt jemand sein Eigentum nicht widerspruchslos heraus, wird er mit dem Stock auf den Kopf oder die Schultern geschlagen, bis er die Sachen fallen läßt.

 

Ich selbst habe von der Gefangenschaft nichts Gutes erwartet, entsprechend vorgesorgt und zwei Unterhosen, drei Hemden, den Tuchanzug und meinen Drillich-Tarnanzug übereinander angezogen. Mein wertvollstes Stück aber ist ein fast knöchellanger Wachmantel mit Kapuze, der aus einem aufgegebenen Polizei-Bekleidungsdepot stammt und wegen seiner blaugrauen Farbe nicht recht zum Feldgrau der Wehrmacht paßt. Doch das stört hier überhaupt nicht.

 

Über die eine Schulter habe ich an einem Stoffgürtel meinen Brotbeutel, über die andere an einem Lederriemen meine Kartentasche umgehängt. Während die meisten bereits vor den Fahrzeugen in einem Haufen stehen, bewegen sich einige noch zwischen den Fahrzeugen und können sich nicht von ihren liebgewordenen Sachen trennen. Doch die Aufforderungen der Amerikaner werden immer drängender und massiver.

 

"Smeiß weg, Kamerad, smeiß weg, Amerika alles neu!" rufen sie uns immer wieder zu, bis sie uns alle auf einer freien Fläche zusammengetrieben haben, wo wir uns nun in Fünferreihen aufstellen müssen.

 

"Five men a line! Mack snell! Let's go!" tönt es von allen Seiten. Und in kurzer Zeit ist aus dem wirren Haufen eine geordnete lange Marschkolonne entstanden, die sich nun auf eine Reihe zweieinhalbtonner Prestone Army Trucks zu bewegt. Zu je 60 Mann werden wir auf der Ladefläche der Lkws zusammengepfercht, wo eigentlich nur für 30 Mann Platz ist. Als wir aufgestiegen sind, sehen wir, daß die Landser auf den vorderen Fahrzeugen der Kolonne kräftig "gefilzt" werden. Etliche Amis - vermutlich die Fahrer und Beifahrer - springen von der Seite auf die Chassis der Wagen, reißen den Landsern alle möglichen Gepäckstücke weg und werfen sie auf die Erde.

 

Da nähert sich auch der Fahrer unseres Lkws, ein spindeldürrer Mann mit einem sonnen- gebräunten, faltigen Galgenvogelgesicht, wie man sie als Darsteller von Viehdieben aus den Wildwestfilmen kennt. Er springt seitwärts auf den überstehenden Rand der Ladefläche und hält sich an den Planken des Aufbaues fest.

 

"Anybody talkin' English here?" quetscht er zwischen seinen tabakbraunen Zähnen hervor. Da werde ich auch schon von den Kameraden nach vorne geschoben und stehe ihm nun Auge in Auge gegenüber. Mir ist etwas mulmig, denn ich weiß nicht recht, wie ich den Ausdruck seiner wasserblauen Augen in dem dunklen, lederartigen Gesicht deuten soll. Zudem spricht er einen fürchterlichen Slang, den ich erst einmal ins Englische und dann ins Deutsche übertragen muß.

 

Immerhin bekomme ich mit, was er uns zu sagen hat, und damit ändert sich meine Meinung über diesen Mann schlagartig. Er sagt mir nämlich, daß er von Beruf Cowboy ist und es nicht leiden kann, wenn Pferde in eine enge Koppel eingesperrt werden; um so mehr gehe es ihm gegen den Strich, Menschen einzupferchen. Er habe den Auftrag, seine Fuhre zu filzen, könne sich aber nicht dazu überwinden, hilflosen Menschen etwas wegzunehmen. Aber gleich komme der Transportoffizier hierher, um nachzusehen, ob genug Sachen auf der Erde lägen. Ich solle deshalb meinen Kameraden sagen, sie möchten ein paar entbehrliche Sachen auf die Erde werfen, damit es so aussähe, als ob er uns gefilzt habe.

 

Ich gebe es weiter, und sogleich fliegen einige Gegenstände auf die Erde wie Gasmaskenbüchsen, die zuletzt als Lebensmittelbehälter gedient haben, Feldflaschen, aber auch Bekleidungsstücke wie Socken und Unterhosen. Es dauert gar nicht lange, dann reicht es ihm. "That's good, dat's 'nough, it's okay now!" läßt er sich vernehmen und stoppt damit die Aktion. Als dann der Transportoffizier vorbeigegangen ist, kommt er noch einmal hoch zu uns und sagt mir, daß er vom Kriege die Schnauze restlos voll habe und sich nichts sehnlicher wünsche, als möglichst bald aus der Armee entlassen zu werden. Dann fragt er, ob jemand etwas wiederhaben will, was er im ersten Eifer weggeworfen hat. Sofort zeigen wir ihm auf der Erde liegende Lebensmittel -  Kommißbrotstücke, Beutel und Dosen von "eisernen Rationen" - , die jemand - wohl aus Versehen - weggeworfen hat. Bereitwillig hebt er sie auf und wirft sie uns zu. Sogar einen neuen schwarzen Blouson, wie ihn die Panzerfahrer tragen, mit der gelben Paspelierung der Nachrichtentruppe, der ein ganzes Stück von unserem LKW entfernt auf der Wiese liegt, holt er herbei, weil ihn einer von uns gerne haben möchte.

 

Auf meine Frage, wohin wir denn fahren würden, sagt er, daß das nur der Transportführer wüßte, aber daß es gleich losginge und wir dann schon sehen würden, wohin wir gebracht würden. - Dieser einfache Naturbursche ist bestimmt kein Feind! Er ist einfach ein Mensch, der es gewohnt ist, frei zu leben und den es schmerzt, andere Menschen eingesperrt zu sehen. Wir können es kaum fassen, daß ein Mann mit wahrhaft gangsterhaftem Aussehen ein so mitfühlendes Herz besitzt.

 

Kurz darauf fahren wir wirklich los. Über Ostsümmern, Menden, Lendringsen, Hönnethal, Klusenstein, Binolen, Sanssouci, Beckum, Estinghausen, Enkhausen, Hachen, Müschede, Arnsberg, Öventrop, Freienohl, Stockhausen, Meschede, Velmede, Bestwig, Nuttlar und Altenbüren kommen wir schließlich nach Brilon.

 

Überall stehen Leute an den Straßen, bringen uns etwas zu trinken oder werfen uns Butterbrote zu. In Brilon rufen uns die Frauen zu: "Reißt bloß nicht aus! Hier haben sie deswegen schon viele erschossen. Weihnachten seid ihr doch alle wieder zu Hause!"

 

Auch bei schönstem Frühlingswetter ist es sehr deprimierend, Gefangener im eigenen Land zu sein und wie in einem Viehtransport durch kriegszerstörte Orte und Landschaften gekarrt zu werden. Jetzt werden wir uns unserer trostlosen Lage erst recht bewußt, und viele sind auf diesem Transport den Tränen nahe.

 

Gleich hinter der Stadt biegen wir in einen Feldweg ein. Auf den Viehweiden beiderseits des Weges bietet sich uns dasselbe Bild wie bei Sümmern: ein unübersehbares Gewimmel von Landsern, das auf die Nähe des Auffanglagers Brilon verweist.

 

Als wir ebenfalls die Fahrzeuge verlassen und eine Wiese aufsuchen müssen, versuchen wir  - wie wir gekommen sind - auch hier als geschlossene Einheiten zusammenzubleiben. Hier sehen wir sogar Kameraden wieder, die am Samstag losgezogen sind, um sich nach Hause durch- zuschlagen. Sie sind offenbar nicht weit gekommen. Es ist erstaunlich, wie diszipliniert sich die einzelnen im Kreise ihrer gewohnten Kameraden verhalten. Das Beisammensein in den alten Einheiten gibt uns auch ein Gefühl der Geborgenheit. Man kommt sich nicht ganz so verlassen vor, und manches läßt sich gemeinsam einfach leichter ertragen, ganz im Sinne der Sentenz von Christoph August Tiedges (1752-1841):

 

                           "Geteilte Freud' ist doppelte Freude.

                           Geteilter Schmerz ist halber Schmerz."

 

So stehen wir nun auf einer Wiese, beobachten die sinkende Sonne und hängen unseren Gedanken nach. Einige rauchen, aber nur wenige unterhalten sich. Es ist gerade so, als ob uns die aussichtslose Lage stumm gemacht hätte. Etwas lebhafter wird es, als es abends pro Mann eine K-Ration aus der amerikanischen Truppenverpflegung gibt. Die GIs erhalten wenigstens drei dieser Päckchen täglich, wie man aus den verschiedenen Aufschriften "BREAKFAST", "DINNER" und "SUPPER" leicht schließen kann. Jedes Päckchen enthält den Nährwert von 1500 Kalorien, die sich aus einer Dose Leistungsnahrung - wie Ham and Eggs, Corned Beef, Wurst oder Preßfleisch - , Kraftkeksen und traubenzuckerreichen Fruchtriegeln zusammensetzen. Da jedes Päckchen aber auch einen Barren Schokolade und eine Viererpackung Zigaretten enthält, ist die Stimmung an diesem Abend wieder etwas optimistischer. Hinzu kommt noch das gute Wetter. Der Boden ist trocken und das Gras noch nicht zertrampelt, so daß wir während der kommenden Nacht ohne Bedenken auf der Erde schlafen können.

 

Auch am Mittwoch (18.04.) scheint den ganzen Tag die Sonne. Außerdem gibt es pro Person zwei Verpflegungspäckchen. Das ist zwar sehr erfreulich, aber die ersten Mängel machen sich auch bereits bemerkbar. Es gibt nämlich nichts zu trinken und auch keine Latrine, um seine Notdurft zu erledigen. Doch auch hierbei kommt uns der gewohnte Kameradenkreis zugute, denn es wird alsbald die Viehtränke an einem trockenen Bachlauf als notdürftige Toilette bestimmt und allen geraten, mit dem Inhalt ihrer Feldflaschen sorgfältig umzugehen. Daß sich niemand waschen oder rasieren kann, haben wir auch früher schon erlebt und wird zunächst nicht als gravierender Mangel empfunden. Obwohl das Gras am Abend platt getrampelt ist, können wir - mit Bekannten aneinander geschmiegt - wieder einigermaßen warm und trocken schlafen.

 

Am Donnerstagmorgen (19.04.) aber beginnt die echte Leidenszeit, denn der Himmel bewölkt sich und kurz vor Mittag beginnt es in Strömen zu regnen. Da kaum noch Zeltbahnen vorhanden sind und wir uns nur mit den wenigen Decken schützen können, die dieser oder jener durch die Filzung retten konnte, sind wir überwiegend dem Wetter schutzlos ausgesetzt. Also kauern wir uns zu dreien oder vieren zusammen und versuchen, uns gegenseitig zu wärmen und zu schützen, so gut es eben geht. Ab und zu macht der Regen mal eine Pause, so daß wir vom Winde wieder etwas getrocknet werden.

 

Verpflegung gibt es heute nicht, angeblich soll das zweite Päckchen von gestern für heute bestimmt gewesen sein. Wohl denen, die nicht alles sofort aufgegessen haben! Doch wie sich jetzt herausstellt, waren das nur wenige. Die meisten haben während ihrer Kriegseinsätze gelernt, mit ihrer Verpflegung hauszuhalten, und können nun davon profitieren. Dafür wird es aber empfindlich kalt und beginnt zu schneien, was das Zeug hält. Dazu kommt noch ein starker Wind, der den Schnee in großen Wolken vor sich hertreibt.

 

Vom Grasbewuchs ist in kurzer Zeit nichts mehr zu erkennen. Der Boden ist erst weiß vom Schnee, verwandelt sich aber bald in eine schlammige braune Masse, so daß man sich nirgendwo hinsetzen, geschweige denn hinlegen kann. Bei vielen ist die Feldflasche leer, und sie versuchen nun, ihren Durst mit dem Schnee zu stillen, was aber nur dazu führt, daß sie noch durstiger werden.

 

Am Freitag (20.04.) und Samstag (21.04.) verschärft sich die Lage noch weiter. Verpflegung gibt es nicht, vor allem aber kein Wasser, so daß immer mehr Leute dazu übergehen müssen, mit dem Schnee den schlimmsten Durst zu stillen. Doch dann gibt es plötzlich Unruhe unter den Landsern. Es ist nämlich ein Bauer eingetroffen, der von den Amerikanern gezwungen wurde, in einem Jauchefaß Wasser für die mittlerweile auf 36.000 Mann angewachsene Zahl der Gefangenen heranzubringen. Allerdings muß man lange anstehen, um etwas von dem köstlichen Naß zu ergattern. Zum Glück sind wir unter Bekannten und können uns gegenseitig mit Kochgeschirren aushelfen und beim Schlangestehen ablösen.

 

So stehen wir hungernd und frierend im Schlamm auf Viehkoppeln, die an den Ecken mit Panzern und Panzerspähwagen gesichert werden. Irgendwo gab es eine Rübenmiete, die außer mit Erde auch mit einigen Gummireifen abgedeckt war. Diese haben sich nun einige Landser herbeigeholt und mit Hilfe der gewachsten Schutzschachteln der K-Rationen angezündet, um sich an den Flammen etwas aufzuwärmen. Von dem schwarzen Qualm und dem umherfliegenden Ruß wird nicht nur der Schnee in der Umgebung der Feuerstelle schwarz gefärbt. Auch die Landser, die sich am Feuer wärmen, verwandeln sich bald in schwarze Jammergestalten. Weil an Waschen nicht zu denken ist, versuchen viele, sich das Gesicht mehr schlecht als recht mit Schnee zu säubern und sehen bald wie nordische Trolle aus.

 

Dann werden auch die ersten Ruhrkranken festgestellt, ausgesondert und abtransportiert. Es sind vor allem die jüngeren Kameraden, die auch sonst in großer Zahl vor Schwäche zusammenbrechen. Wir haben zwar genug Sanitäter und sogar Ärzte unter uns, aber kaum Verbandszeug und erst recht keine Medikamente. Nach drei Tagen in diesem Elend sind viele am Ende ihrer Kräfte angekommen und stehen kurz vor dem physischen Zusammenbruch. Die Stimmung ist auf dem Nullpunkt angekommen, es wird kaum noch gesprochen. Die meisten stieren aus trüben Augen einfach vor sich hin.

 

Am Sonntag (22.04.) wird das Wetter etwas besser: die Niederschläge hören auf, und ab und zu läßt sich sogar die Sonne sehen. Aber es gibt weder Verpflegung noch Trinkwasser. Dafür entsteht kurz vor Mittag Unruhe an der Lagerstraße und eine LKW-Kolonne fährt heran.  Wie es aussieht, sollen wir abtransportiert werden. Wie wilde Tiere, vor Hunger und Durst fast außer sich, wogen die um ihr Leben ringenden grauen und schwarzen Gestalten wie eine Menschenlawine auf die Fahrzeuge zu. Die Posten können diese wild gewordene Horde nicht aufhalten und weichen zurück. Die Lastwagen werden einfach erstürmt und besetzt. Auch Martin Schmidt und ich haben einen LKW erklommen und glauben nun, gewonnenes Spiel zu haben. Doch schon wird dem Martin, der hinter mir aufgestiegen ist, ein Gewehrlauf ins Kreuz gestoßen.   "Get off, ye bloody bastard!"    lautet die freundliche Aufforderung zum Absteigen.

 

"Hoffentlich geht da kein Schuß los", fährt es mir blitzartig durch den Kopf, und ich fühle, wie meine Knie weich werden.

 

Schließlich sind aber alle Lkws wieder geräumt, denn als erste sollen die Angehörigen der "Organisation Todt", eine Art Arbeitersoldaten, verladen werden, die schon in Zweierreihen am Wege angetreten sind. Doch immer wieder wogt die Masse der vor Hunger und Durst halb wild gewordenen Landser an die Fahrzeuge heran, als ginge es um ihr Leben. Alles Fluchen der Posten und ihre Rufe "Back! - Back there! - Get back! - Goddamned!" helfen nichts. Die Landser sind außer Rand und Band und einfach nicht zu beruhigen und zu veranlassen, den Fahrweg freizugeben. Dann kommen Jeeps der Military Police angefahren. Die Besatzungen springen ab und laden aus einem Transporter eine Meute Bernhardinerhunde aus. Mit gezücktem Gummiknüppel und mit Hilfe der Hunde versuchen sie, die Menge auf die Wiese zurückzudrängen. Doch die Hinteren machen keinen Platz und die Vorderen können deshalb nicht zurückweichen und müssen die Schläge der wütenden Militärpolizisten einstecken.

 

Sie lassen sich stumpfsinnig verprügeln und auch nicht von den bellenden und zähnefletschenden Hunden beeindrucken. Sie rühren sich einfach nicht von der Stelle. Die Amerikaner aber werden immer wütender und stoßen die schlimmsten Flüche aus. Doch dann greifen sie zum letzten Mittel und machen einen Churchill-Panzer klar.

 

Der Panzer wird in Marsch gesetzt und rollt - halb auf dem Wege, halb auf der Wiese - wie ein rasselndes Ungetüm bedrohlich immer näher. Ein MG-Schütze sitzt neben dem Turm und feuert nun mehrere Salven über unsere Köpfe hinweg. Da gibt es kein Halten mehr. Niemand möchte von dem Stahlkoloß überrollt oder einfach abgeknallt werden. Daß die Amis in ihrer Wut fähig wären, in die Menge hineinzufahren, daran zweifelt niemand, denn nach ihren Flüchen zu urteilen, schäumen sie geradezu vor Wut. Also drängen die vorne Stehenden mit aller Gewalt und unter Aufbietung ihrer letzten Kräfte nach hinten. Tatsächlich gerät die schmutzig- graue Phalanx dabei ins Wanken, und als die Masse erst einmal in Bewegung ist, ist auch bald der Fahrweg frei.

 

Als wieder Ruhe eingekehrt ist, gibt der Ami bekannt, daß alle von hier abtransportiert werden sollen, aber nicht als wilde Horde, sondern geordnet und nach dem Aufrufen der einzelnen Verbände. Bis dahin sollen alle zu ihren Plätzen auf der Koppel zurückkehren.

 

Kaum sind Martin und ich an die Stelle zurückgekehrt, wo wir vorher standen - wobei wir uns gut an dem Haufen heruntergebrannter Reifen orientieren können - , da wird  bekanntgegeben, daß als nächste Einheit die 116.Panzerdivision abtransportiert werden soll, und zwar in der Reihenfolge, wie sie Oberstleutnant Guderian, unser früherer Ia, festgelegt hat. Danach kommen zuerst die Nachrichtenabteilung 228 und die Heeresflakabteilung 281 an die Reihe. Eine Viertelstunde nachdem die erste LKW-Kolonne abgefahren ist, kommt die zweite herangerollt, und nun sind wir bei denen, die ganz geordnet aufsteigen dürfen.

 

Auf dem Wege nach Brilon kommen uns eine Anzahl Lkws vom amerikanischen Troß mit Verpflegung für die Gefangenen entgegen. Wir bekommen aber nichts davon mit, weil wir seit dem Besteigen der Lkws nicht mehr zum "Lager Brilon" oder - wie es in der Armeebürokratie der Amis heißt - zum "Brilon PWTE" (Prisoner of War Temporary Enclosure) gehören. So bleiben wir den vierten Tag ohne Verpflegung. In der Stadt wird ein großer Transport-Konvoi zusammengestellt. Erst als er vollständig ist, setzt er sich in Bewegung. Wieder sind wir mit 60 Mann auf einem LKW zusammengepfercht. Dieses Mal sind die Fahrer Schwarze, die wie die Henker fahren, so daß wir in mancher Kurve fürchten, die Seitenbretter könnten brechen und wir auf die Straße fliegen. Aber sie sind so elastisch, daß - zumindest bei unserem Transport - kein Unglück geschieht. Allerdings haben wir auch ein Warnsystem eingeführt, denn vor scharfen Kurven ruft jeweils einer oder rufen auch mehrere im Chore "Rechts!" oder "Links!", und wir versuchen der Fliehkraft zu begegnen, indem wir uns zur anderen Seite beugen. Unsere Kolonne fährt über Brilon-Wald, Willingen, Usseln, Neerdar, Rhena und Lelbach zunächst nach Korbach. Hier schlagen wir die Straße nach Warburg ein, und ich sehe mich schon zu Hause vorbeifahren und überlege, wo ich am besten abspringen kann. Doch es wird angehalten und umgekehrt: der Transportführer hat Warburg mit Marburg verwechselt. So geht es weiter über Thalitter, Herzhausen, Kirchlotheim, Schmittlotheim, Frankenberg, Münchhausen, Wetter, Göttingen und Cölbe nach Marburg, wo wir einen kurzen Aufenthalt haben. Auch während dieser Fahrt steht überall Zivilbevölkerung an den Straßen und wirft uns etwas Eßbares zu.

 

Hinter Marburg kommen uns mehrere Lkws mit grölenden jungen GIs entgegen. Als sie neben uns sind, beschimpfen und verfluchen sie uns und schlagen auch mit Stöcken auf uns ein. Das hat wohl auch eine zerlumpte Gestalt am Straßenrand mitbekommen, denn der Kerl stößt Verwünschungen aus und schüttelt drohend seine Faust gegen uns. Es muß wohl ein Ostarbeiter sein, denn aus dem, was er von sich gibt, ist das Wort "Germanski" heraus- zuhören. Unser Fahrer, ein baumlanger Neger, macht eine Vollbremsung, daß die Vordersten beinahe über das Führerhaus fliegen, und sprintet in drei großen Schritten auf den Schimpfer zu. Der strahlt übers ganze Gesicht, denn er rechnet wohl mit einer Belohnung für seine Heldentat.

 

Doch der Amerikaner bringt ihm weder Schokolade noch Zigaretten, sondern knallt dem verdutzt Dastehenden rechts und links ein paar Schläge ins Gesicht, die der Betroffene wohl nicht so schnell vergessen wird. Dann macht er auf den Hacken kehrt, schwingt sich ins Führerhaus und legt einen Kavalierstart hin, daß die Hinteren fast vom Wagen fliegen.

 

Mancher von uns unterdrückt eine Träne, die ihm unwillkürlich ins Auge steigt. Wieder erleben wir einen Menschen, der sich nicht an unserem Unglück weidet und es auch nicht duldet, daß wir zu allem Überfluß auch noch unflätig beschimpft werden. So etwas geht ans Gemüt, und unsere Nerven liegen ohnehin schon seit Tagen bloß.

 

Über Staufenberg, Gießen, Wetzlar, Burgsolms, Weilburg, Aumenau, Runkel, Dehrn, Limburg, Etz, Montabaur und Ober-Elbert fahren wir nach Ehrenbreitstein. Von dort aus geht es stromabwärts am Rhein entlang über Vallendar, Bendorf, Neuwied, Irlich, Leutesdorf und Rheinbrohl nach Hönningen. Hinter Hönningen sehen wir eine breite Pontonbrücke über den Rhein, über die bereits Transportfahrzeuge rollen.

 

Nach einer Weile sind auch wir an der Reihe. Auf der anderen Rheinseite liegt das Dorf  Kripp, wo wir nun anhalten. Auch hier  versorgt uns die Bevölkerung wieder mit Lebensmitteln, und man sagt uns, daß es hier ganz in der Nähe ein großes Gefangenensammellager, das "Lager Remagen" gibt. Nach kurzem Aufenthalt in Kripp fahren wir weiter zum Lager, wo wir schon bald die ersten Posten passieren, welche die Lagereinfahrt bewachen.

 

Gleich hinter dem Lagertor fallen uns vier Tote auf, die, mit Zeltbahnen bedeckt, am Wege aufgereiht sind. Dann fahren wir an einem Stacheldrahtkäfig vorbei, in dem - wie wir später erfahren - 800 Arbeitsmaiden und Wehrmachtsnachrichtenhelferinnen, sogenannte "Blitzmädel", untergebracht sind. Als wir vorbeifahren, kreischen sie auf und winken uns zu. Das ist sicher gut und freundlich gemeint, doch bei ihrem Anblick kommt bei uns keine Freude auf. Sicher hat kaum jemand von uns jemals derart verwahrloste Frauen gesehen: ungepflegt, verdreckt und zerlumpt, mit wirren Harren, kurz: ein Bild des Jammers. Und bei diesem Anblick läuft es manchem von uns kalt den Rücken hinunter.

 

Dann folgen beiderseits der Lagerstraße unterschiedlich große Käfige (cages), die mit Landsern belegt sind. Links des Weges hängen bei einem Teillager Toilettenpapierfetzen am Stacheldraht. Dort ist die Ruhr ausgebrochen. Während im Frauenlager wenigstens Zelte auf- gestellt worden sind, gibt es in den "cages" für Männer nichts dergleichen, bestenfalls etwas Gras, in der Regel aber nur blanken Ackerboden.

 

Schließlich halten wir an und müssen absteigen. Wir werden auf eine Wiese gejagt, die gerade mit Stacheldraht eingezäunt und als neuer Käfig eröffnet wird. Immerhin gibt es hier Gras und eine Reihe in Blüte stehender Apfelbäume. Da es schon dämmerig ist, brechen Martin und ich einige Zweige von den Bäumen ab, um uns daraus ein Lager für die Nacht zu bereiten.

 

Dann ist es völlig dunkel geworden, wir sind aber noch nicht eingeschlafen, als plötzlich zwei Schüsse durch die Nacht peitschen, denen sogleich der markerschütternde Todesschrei eines Mannes folgt: "Ich wollte doch bloooß . . . "

 

Dieser Schrei fährt uns gewaltig in die Glieder; wir werden ihn sicher unser Lebtag nicht vergessen. Zitternd schmiegen wir uns noch enger aneinander. An Schlafen ist nicht zu denken, denn das Herz schlägt uns bis zum Halse und läßt uns vor Entsetzen nicht zur Ruhe kommen.

 

Den Toten läßt man "zur Abschreckung" bis 17 Uhr am nächsten Tage im Regen liegen. Er stammte hier aus der Gegend, hatte in Sichtweite auf dem Berge ein Hotel und glaubte, sich im Schutze der Dunkelheit dorthin auf den Weg machen zu können.

 

 

No  shelter  nor  any  other  comfort  !

 

Mit einem Rippenstoß werde ich am Montagmorgen (23.04.) aus dem leichten Schlaf geweckt, in den ich erst nach Mitternacht vor Erschöpfung und Übermüdung gefallen bin. Ich habe die Nacht eng zusammengekauert mit Martin Schmidt verbracht, und nun hat er sich ungeschickt umgedreht und mich dabei unabsichtlich geweckt. Wir betrachten es als großen Vorteil, daß die früheren Einheiten bis hierher fast geschlossen zusammengeblieben sind. Dabei hat unsere Batterie den hinteren Teil der eingezäunten Fläche zugewiesen bekommen, und Martin und ich haben nicht weit vom Stacheldrahtzaun entfernt einen Lagerplatz gefunden.

 

Als wir hier ankamen, haben sich alle gleich auf die in Blüte stehenden Apfelbäume gestürzt, um sich Zweige als Schlafunterlagen zu besorgen. Dabei wurden neben den Blättern und Zweigen auch Rindenstücke abgerissen, um sich darauf zu betten. So sind die Bäume nun in einem erbarmungswürdigen Zustande, der genau unserer Gemütslage entspricht. Die meisten sind  nur noch Baumruinen, von denen oft lediglich gelblich weiße Stümpfe ohne Rinde in die Höhe ragen.

 

Martin und ich waren bei den ersten, die sich über die Bäume hermachen konnten und haben daher ein ganzes Bündel kleinerer Zweige einheimsen können. Aus ihnen haben wir uns eine gute Unterlage bereitet, so daß wir nicht unmittelbar auf der Erde liegen mußten. Außerdem kam es uns in dieser ersten Nacht im neuen Lager zustatten, daß wir zwei Uniformen über- einander tragen. Als Schutz gegen den leichten Nieselregen konnten wir eine gelbe Gummi- plane benutzen, die Martin irgendwo gefunden und mitgenommen hat.

 

Wegen unserer Müdigkeit hätten wir schlafen müssen wie die Murmeltiere. Aber der Todes- schrei unseres Kameraden, der sich nach Einbruch der Dunkelheit durch die Umzäunung gezwängt hatte, die zur Zeit nur aus drei einzelnen Stacheldrähten besteht, ist uns durch Mark und Bein gegangen und hat unsere Nerven derart aufgewühlt, daß wir lange wach gelegen haben, bis wir dann endlich vor Erschöpfung in einen unruhigen, von Alpträumen durchsetzten leichten Schlummer gefallen sind.

 

Nun aber beginnt ein neuer kühler Tag, und leichter Nieselregen schlägt uns ins Gesicht. Obwohl wir noch immer völlig übermüdet und durch das verkrampfte Liegen dazu noch steif geworden sind und uns wie gerädert fühlen, stehen wir auf und gehen umher, um ein wenig warm zu werden. Unsere Schlafstelle decken wir unterdessen mit Martins Gummiplane ab.

 

Wir sind allerdings nicht die einzigen, die sich durch Bewegung erwärmen wollen. Einige sind - in Wolldecken eingehüllt - sogar die ganze Nacht hindurch umhergewandert, weil sie gestern abend keinen geeigneten Schlafplatz gefunden haben. Meist laufen alle stumm an einander vorbei. Wenn ein kurzer Wortwechsel zustandekommt, so dreht er sich um den Toten, der draußen ein paar Schritte vor der Umzäunung auf dem Acker im Regen liegt. Oder man verwünscht das Wetterloch, in das wir hier geraten sind. Einige machen auch kurze Bemerkungen über die Erschwernisse der letzten Nacht. So laufen wir unruhig umher, schlagen mit den Armen um unsere Oberkörper und hoffen, auf diese Weise etwas warm zu werden. Zwischendurch müssen wir uns auch immer wieder hinsetzen, weil uns einfach die Kräfte verlassen.

 

Im Hellerwerden erkennen wir dann die Berge, die teilweise bis an den Rhein reichen. Um uns herum aber sehen wir nur Menschen, Menschen soweit das Auge reicht. Es muß eine riesige Fläche sein, die hier mit Stacheldraht umschlossen wurde. Im Jargon der Heeresbürokratie nennt man diese großen Käfige "PRISONER OF WAR TEMPORARY ENCLOSURES", abgekürzt PWTE, was nach unserem Sprachgebrauch etwa "Kriegsgefangenendurchgangslager" bedeutet, wobei "enclosure" eigentlich nicht "Lager", sondern "Umzäunung" oder "Koppel" bedeutet und ein mit Stacheldraht eingefriedigtes Stück Feld bezeichnet, das nicht mit Unterkünften, wohl aber ringsum mit Wachttürmen, Scheinwerfern, Panzern und Maschinengewehrständen ausgestattet ist.

 

Noch ist Platz genug im Lager, denn der Raum ist angemessen auf die einzelnen Einheiten verteilt worden. Ganz in unserer Nähe ist sogar eine große freie Fläche mit einem Bombentrichter, der als Ersatzlatrine genutzt wird. Zwischen dem Trichter und der Stacheldrahtumzäunung und um den Trichter herum hat sich niemand niedergelassen. Wahrscheinlich hat der nackte Ackerboden hier die Landser abgeschreckt, denn abgesehen von dieser kahlen Stelle, die durch die Bombenexplosion mit dem entsprechenden Erdauswurf entstanden ist, war der Käfig bei unserer Ankunft eine Obstwiese mit üppigem Grasbewuchs.

 

Da die alten Einheiten überwiegend zusammengeblieben sind, sehen wir um uns herum nur bekannte Gesichter. Hin und wieder treffen wir aber auch Fremde, die in diesem Käfig leben und offenbar nirgendwo richtig dazugehören. Vor allem sind es junge Burschen, halbe Kinder, die als Luftwaffenhelfer von den Schulbänken und Lehrwerkstätten weg an die Flakgeschütze geholt wurden, daneben gibt es aber auch alte Männer in Zivil, die zum Volkssturm einberufen waren oder Angehörige der Organisation Todt in ihren erdbraunen Uniformen, die ziellos durch den Käfig ziehen und irgendwo Anschluß suchen.

 

Im Laufe des Vormittags geht der Regen in Schauer über, und hin und wieder läßt sich sogar die Sonne blicken, so daß die feuchten Uniformen dampfen und schließlich auch am Leibe trocknen. Obwohl die Frühlingssonne noch keine große Kraft besitzt, freuen wir uns darüber, daß sie scheint und empfinden sie als wohlig warm.

 

Um 10 Uhr versammeln sich die einzelnen Einheiten zu einer Besprechung. Während die Offiziere meist nur als Zuhörer teilnehmen, haben hier die Praktiker das Wort. Und wir sind uns schnell darüber einig, daß es besser ist, Erdlöcher auszuheben, um uns gegen Wind und Wetter zu schützen, als einfach auf der Erde zu hocken.

 

Unser früherer Spieß, Hauptwachtmeister Basedow, hat bereits alle vorhandenen Feldspaten einsammeln lassen und ist zu dem Ergebnis gekommen, daß im Durchschnitt auf je 50 Mann ein Spaten kommt. Das Problem ist, die Sache so zu organisieren, daß jeder einmal an die Reihe kommt. Doch das ist für ihn, der ständig etwas organisieren mußte,  kein Problem. Außerdem sind wir so daran gewöhnt, seinen Anweisungen zu folgen, daß es auch hier zu keinen ernsteren Spannungen kommt. Vom Ami her mußten wir uns wegen der Zuteilung der Verpflegung zu Hundertschaften und dann zu Tausendschaften zusammenschließen. Dabei bildet unsere frühere Batterie nun die 1.Hundertschaft innerhalb der 6.Tausendschaft. Nach alter Gewohnheit geht die Zuteilung der Spaten entsprechend den Dienstgraden vonstatten. So gehen die unserer Hundertschaft zustehenden beiden Spaten zunächst an den Spieß, der auch als Tausendschaftsführer fungiert, und an einen Oberwachtmeister, der hier einen Hundertschaftsführer spielt. Die Offiziere müssen bei dieser Aktion nicht berücksichtigt werden, denn sie sind nicht mehr bei ihren früheren Einheiten, sondern haben sich um unseren früheren Ia, Oberstleutnant Guderian, geschart und am Anfang des Käfigs in der Nähe des Lagertores ihre Plätze gefunden.

 

Nachdem der Spieß mit zwei Gehilfen sein Loch gebuddelt hat, gibt er den Spaten an unseren Hundertschaftsführer, Wachtmeister Tiedtke, weiter. So kommen zuerst die Wachtmeister in den Genuß des Spatens, nach ihnen die Unteroffiziere und dann die Stabsgefreiten und Obergefreiten. Deshalb sehen Martin und ich vorerst keine Chance, an einen Spaten zu kommen, und wir vertreiben uns die Zeit bis zur Verpflegungsausgabe, die um 17 Uhr stattfinden soll, damit, unser Loch theoretisch zu planen, die Maße festzulegen und den benötigten Platz durch in die Erde gesteckte Zweigenden zu markieren. Dabei lassen wir uns auch durch gelegentliche Regenschauer nicht irritieren, sondern nehmen sie zum Anlaß, darüber nachzudenken, wie wir uns vor unliebsamem Wassereinbruch schützen können.

 

Während des ganzen Tages sind US-Pioniere damit beschäftigt, weitere Pfähle in die Erde einzurammen und die Stacheldrahtverspannungen so dicht zu machen, daß man wirklich von einem riesigen Käfig sprechen kann. Die amerikanische Bezeichnung "cage" hat also ihre volle Berechtigung. Neben dem Eingang zu unserem Cage wird eine zylinderförmige Zeltbahn- Zisterne aufgestellt, die wie eine große grüne Tonne aussieht und durch den Drahtverhau von der Lagerstraße aus mit Wasser gefüllt werden kann, das Tankwagen heranbringen müssen. Außerdem wird Zeltmaterial angeliefert, aus dem einige Gefangene nun ein Sanitätszelt aufbauen. Im Hinblick auf die vielen Pioniere, die hier im Einsatz sind, nehmen wir an, daß das "Remagen PWTE" noch längst nicht fertiggestellt ist, sondern noch viel größer werden soll als es jetzt schon ist.

 

Um 17 Uhr wird endlich der Tote weggebracht, der den ganzen Tag über in Sonne und Regen auf dem Acker gelegen hat. Dann aber entsteht Unruhe am Lagertor: der Verpflegungs-LKW ist da! Trotz der großen Entfernung können wir von unserem Platz aus beobachten, wie Berge von Tonnen, Kanistern, Kisten, Kartons und Säcken, aber auch Konservendosen jeder Größe - vom Marmeladeneimer bis zur Sardinenbüchse - abgeladen werden. Wie sich schnell herum- spricht, ist die Verpflegung jeweils für zwei Tausendschaften bestimmt, und wir sehen auch unseren früheren Spieß, der zur Stelle ist, um die Hälfte der Gebinde für seine Tausendschaft zu übernehmen. Dann versammeln sich bei ihm die zehn Hundertschaftsführer, um ihren Anteil zu übernehmen. Wieder zahlt es sich aus, daß wir alle zur selben Division gehört haben, denn bei der Aufteilung der angelieferten Lebensmittel auf zehn gleiche Teile geht es ganz gesittet zu und ohne jeden Streit. Selbstverständlich wird die Verteilung von einer Traube hungriger Gestalten genau beobachtet, die darauf achten, daß nur ja niemand übervorteilt wird. Auch an den Verteilerstellen der einzelnen Hundertschaften versammeln sich genügend Beobachter, die das Aufteilen der angelieferten Schätze in vier gleiche Portionen verfolgen. Hier fängt es nämlich an, schwierig zu werden, weil schon einige Packungen so groß sind, daß sie geteilt werden müssen. Die entstehenden vier Haufen werden dann von den Obleuten der Fünfundzwanzigergruppen in Empfang genommen und mit einigen Gehilfen in die Näher ihrer Lagerplätze gebracht, wo dann die Verteilung auf Fünfergruppen stattfindet.

 

Der Obmann der Fünfergruppe hat dann die schwierige Aufgabe, jedem einzelnen den genau gleichen Anteil zukommen zu lassen. So werden aus den Säcken, Kisten, Kartons und Blechbehältern zunächst halbe, und dann immer kleinere Einheiten. Am Ende der ganzen Prozedur kommt es dann vor, daß für den einzelnen nur noch Kostproben der einzelnen Lebensmittel übrig bleiben. So gibt es bei der ersten Verteilung pro Mann 5 Kekse, 20 g Schmelzkäse, 8 Eßlöffel Milchpulver, 6 Löffel Zucker, 2 Löffel Kaffeemehl, eine Messerspitze Zitronenpulver, 2 Löffel Büchsentomaten, 2 Löffel Dosenspinat, 4 Löffel "Meat and Vegetable Stew", 30 Rosinen, 2 Dörrpflaumen und - fein säuberlich mit einer Rasierklinge in 5 kleine Sektoren wie Mini-Tortenstücke geteilt - eine fünftel Trockenaprikose. Natürlich ist auch das Verpackungsmaterial wertvoll, vor allem können die Kartons und Säcke als Unterlagen und die Dosen als Eßgeschirr genutzt werden. Da es jedoch sinnlos wäre, sie zu zerteilen, bekommt jeder reihum irgend etwas davon mit. Auf jeden Fall sind wir mit der Verteilung der Lebensmittel stundenlang beschäftigt.

 

Während die Verteilung noch auf vollen Touren läuft, ertönt plötzlich der Lagerlautsprecher und fordert alle, die jünger als 16 oder älter als 55 Jahre sind, auf, sich am Lagertor zur sofortigen Entlassung einzufinden. Aus unserer Einheit fällt jedoch niemand unter diesen Personenkreis; es sind durchweg ehemalige Flakhelfer, OT- oder Volkssturmleute, die nach diesem Aufruf am Lagertor zusammenkommen.

 

Zur Nacht gesellen sich noch zwei Kameraden aus unserer früheren Batterie zu uns, die Wolldecken mitbringen. So können wir uns zum Schlafen wie die Heringe in der Dose hinter- einander auf Martins Gummiplane legen und mit den beiden Wolldecken zudecken. Natürlich müssen wir alle auf derselben Seite liegen und können uns auch nur gemeinsam umdrehen, weil sonst die Außenleute ins Freie rollen würden. Obwohl wir so beengt liegen, schlafen wir in dieser Nacht relativ gut, sei es, daß wir völlig übermüdet sind, sei es, daß wir uns gegenseitig so gut wärmen, daß wir den kalten Boden, auf dem wir liegen, kaum wahrnehmen. Natürlich wird der eine oder andere während der Nacht auch einmal wach, vor allem, wenn sich die Besucher des Bombentrichters, der hier als Notlatrine dient, zu laut verhalten. Die meisten suchen den Krater aber erst gar nicht auf, sondern erledigen ihre Geschäfte im Schutze der Dunkelheit einfach irgendwo im Gelände.

 

Ab und zu peitschen auch Schüsse durch die Nacht, und die Suchscheinwerfer schleudern grelle Lichtfinger über uns hinweg. Wir nehmen an, daß die Posten auf diesen Weise ihre eigene Angst und Erregung dämpfen wollen. Denn sie kennen alle die schaurigen Wehrwolfgeschichten, die von der Greuelpropaganda in Umlauf gesetzt worden sind, um sie zum Töten der Deutschen anzuhalten. Doch wenn sie uns Jammergestalten beobachten, wie wir mit schlurfenden Schritten durch den Käfig wandern, so gehört schon eine gehörige Portion Phantasie dazu, sich vorzustellen, wie wir durch den Drahtverhau kriechen, um sie hinterrücks zu überfallen. Es kann aber auch sein, daß sie sich nur die Zeit vertreiben wollen. Immerhin hören diese nächtlichen Spielchen im Laufe der Zeit allmählich auf.

 

Am Dienstagmorgen (24.04.) werden wir von der Sonne geweckt. Auch den ganzen Tag über bleibt der Himmel klar, und wir können uns in der Sonne wärmen. Vor allem sind wir froh, daß wir endlich einmal unsere Oberbekleidung ablegen können. Manche nutzen das gute Wetter sogar dazu, sich zu rasieren. Mein eigener Bartwuchs ist aber noch nicht so stark, daß ich getrost auf eine Rasur verzichten kann. Am späten Vormittag ertönt wieder der Lautsprecher. Dieses Mal werden Sanitäter gesucht. Das ist das Signal für unseren früheren Fernsprechwagenfahrer Adolf Eichel, der aus Darmstadt kommt und von Beruf Schausteller ist. Er ist zwar niemals Sanitäter gewesen, hat sich aber selbst einen Ausweis des Deutschen Roten Kreuzes ausgestellt, der ihm jetzt von Nutzen ist. Obwohl ihm schon schlecht wird, wenn er eine blutende Wunde sieht, meldet er sich nun und wedelt uns mit seinem falschen DRK-Ausweis wie mit einem Fächer zu. Wie ein großer Bühnenstar verabschiedet er sich wild gestikulierend von uns und wechselt hinüber ins Sanitätszelt. Danach wird er von uns nur noch einmal gesehen.

 

Nachmittags werden dann Ausländer aufgerufen, die in der Deutschen Wehrmacht gedient haben und sich nun wieder zu ihrer Nationalität bekennen wollen. So werden Finnen, Weißrussen, Ukrainer, Polen, Tschechen, Slowaken, Bulgaren, Kroaten, Österreicher, aber auch Luxemburger, Belgier und Holländer genannt. Wir haben überhaupt nicht gewußt, daß alle diese Leute bei uns in der Wehrmacht waren.

 

Auf der Hauptlagerstraße ist den ganzen Tag über Betrieb. Bis in die späten Abendstunden kommen laufend Sattelschlepper und karren weitere Gefangene heran. Die meisten fahren an unserem Käfig vorbei und bringen ihre Fracht in andere Lager, die fortlaufend neu eröffnet werden. Kleinere Gruppen von Gefangenen werden aber auch in bereits bestehende Käfige eingewiesen, wenn dort noch Platz zu sein scheint. Hier werden die Neuzugänge gleich zu eigenen Fünfundzwanzigergruppen zusammengefaßt oder in unvollständige Gruppen eingegliedert, die durch irgendwelche Abgänge entstanden sind, damit es bei der Zuteilung der Verpflegung keine Probleme gibt.

Etwas anders geht es bei der Wasserversorgung zu. Die vorhandenen Tankwagen müssen immer mehr Zisternen beliefern und kommen deshalb in immer größeren Abständen, so daß das Wasser langsam knapp wird und sich vor den Wasserbehältern lange Schlangen bilden. Ohne sich gegenseitig dabei abzulösen, hält es kaum jemand aus, allein um Wasser anzustehen.

 

Wegen des ständigen Zustroms neuer Gefangener wird unser rechter Drahtverhau versetzt und ein neben unserem Käfig liegender freier Geländestreifen in unser Lager einbezogen. Auf diesem Land befindet sich eine Rübenmiete, die sofort von den heißhungrigen Landsern geplündert wird. Im Handumdrehen ist die ganze Miete leer. Meist werden die Zuckerrüben nur grob gereinigt und roh gegessen. Da können Magenverstimmungen und Verdauungsstörungen gar nicht ausbleiben. Auch Martin und ich haben eine Rübe erbeutet. Aber wir schälen sie und schneiden sie in schmale Streifen. Zuerst versuchen wir, diese roh zu essen, aber sie schmecken so unangenehm, daß wir sie etwas ankochen und dann warm verzehren. Auch das ist nicht gerade ein Genuß, aber wir bekommen wenigstens keine Magenschmerzen.

 

Auch der Mittwoch (25.04.) beschert uns schönes Wetter. Morgens früh werden die Offiziere durch den Lautsprecher aufgefordert, sich am Tor zu sammeln und zum Abmarsch bereitzuhalten. Viele ehemalige Verbände versammeln sich, und ihre Offiziere verabschieden sich zum Erstaunen der beobachtenden Posten mit Handschlag von ihren früheren Untergebenen. Dann nehmen sie ihre armseligen Gepäckstücke auf und verlassen das Lager. Wie wir später hören, werden sie mit der Eisenbahn nach Attichy östlich von Compiègne gebracht, wo sich ein riesiges Offizierslager befindet.

 

Neben Leutnant Werthmann will sich auch Hans Wilhelm, unser früherer Batteriechef, von uns verabschieden. Doch beim Anziehen seiner langen Schaftstiefel reißt ihm innen eine Lasche ab, ohne die man sie kaum hochziehen kann. Unser Schuster steht zwar bereit, doch er kann ihm nicht helfen, denn die Posten drängen zur Eile, so daß er mit einem halb angezogenen Stiefel zum Tor hinaus humpeln muß und nicht mehr dazu kommt, uns Lebewohl zu sagen.

 

Mittags fahren einige Lkws vor, um die Sanitäter abzuholen. Wieder inszeniert "Eichelino" einen großen Auftritt, indem er sich nach allen Seiten verbeugt und eingeübte Sprüche klopft, bevor er wie ein siegreicher Feldherr durch das Lagertor schreitet, um sich draußen den wirklichen Sanitätern anzuschließen.

 

Inzwischen sind die vorhandenen Spaten schon durch viele Hände gegangen, und es sind so viele Löcher ausgehoben worden, daß sich das Lager in eine Art Gräberfeld verwandelt hat. Deshalb ist es auch für uns an der Zeit, uns nach einem Spaten umzusehen. Es stellt sich jedoch heraus, daß es gar nicht so einfach ist, an das wertvolle Gerät heranzukommen. So bleibt uns einstweilen nichts anderes übrig, als weiter auf Martins Gummiplane zu schlafen, bei Tage die Sonne zu genießen und auf die Verpflegung zu warten. Solange sich das Wetter nicht ändert und es von oben trocken bleibt, kommen wir mit der Gummiplane und den beiden Wolldecken auch ganz gut zurecht.

 

Doch das Wetter spielt nicht länger mit: am Donnerstagmorgen (26.04.) setzt wieder Regen ein, der den Lehmboden - vom Gras ist längst nichts mehr zu sehen - völlig aufweicht. So fällt es immer schwerer, unseren Schlafplatz einigermaßen trocken zu halten. Unterdessen halten die Gefangenentransporte unvermindert an, und bald ist der Erweiterungsstreifen unseres Käfigs dichter belegt als die ursprüngliche Wiese, die unserer Division zugewiesen war. In diesem neuen Teil des Lagers gibt es nur vereinzelt Löcher, die meisten müssen Mann an Mann auf der nackten Erde liegen. Allerdings kommen mit jeder Verpflegungslieferung weitere Säcke, Kartons und Kisten ins Lager, die nach einem bestimmten Verteilerschlüssel als Schlafunterlagen ausgegeben werden.

 

Der Regen hält auch bei Tage weiter an. Dennoch rückt eine Gruppe  US-Pioniere in unser Lager ein und zieht mit einem Kleinbagger parallel zu unserer linken Umzäunung in einigem Abstand einen Latrinengraben, etwa 25 cm breit und 60 cm tief, aber fast so lang wie der ganze Käfig. Dieser Graben muß benutzt werden, indem man sich mit einem Bein auf jeder Seite darüber hockt. Mit dem Aushub wird der Bombentrichter gefüllt, der nun als Ersatzlatrine ausgedient hat.

 

Diese Erdarbeiten veranlassen uns, mal wieder nach einem Spaten Ausschau zu halten. Obwohl schon sehr viele Löcher fertig sind, besteht kaum Aussicht, diese Woche noch einen Spaten zu bekommen. Um so wichtiger ist es, den Platz zu sichern, wo unser Loch entstehen soll. Deshalb kratzen wir mit Konservendosendeckeln um unseren Schlafplatz herum eine Rinne in die Erde, die das von uns beanspruchte Territorium kennzeichnet. Allmählich kommen wir auch dahinter, wie man aus der Rohverpflegung, die wir nach wie vor bekommen, etwas Eßbares zubereiten kann. So läßt sich etwa aus Milchpulver, Zucker, Keksen, Rosinen und Wasser eine ganz passable Milchsuppe herstellen. Es ist zwar kein Kunststück, aus Feldsteinen eine Feuerstelle zu bauen, aber ein Problem, an genügend Brennmaterial heranzukommen, weil sich immer mehr Kochgemeinschaften gebildet haben, die ebenfalls etwas zum Verbren- nen suchen. Dazu werden hauptsächlich die Kisten und Kartons verwendet, die mit den Lebensmitteln ins Lager kommen, doch bei dem großen Bedarf kann jeder nur geringe Mengen davon bekommen. Deshalb wird praktisch jeder Strohhalm im Lager aufgesammelt, auch jedes Rindenstück, kurz alles, was man verbrennen kann. Ich habe noch die zwei Major-Schulterstücke, die unser Kommandeur vor dem Verlassen des Lagers weggeworfen hat. Eigentlich wollte ich sie als Andenken behalten, doch nun setze ich sie als Brennstoff ein, obwohl sie wegen der darin enthaltenen Wolle mehr Gestank als Wärme abgeben.

 

Am Freitag (27.04.) wird das Wetter auch nicht besser. Nur durch Bewegung können wir uns einigermaßen warm halten. Die Verpflegung ist qualitativ gut und vielseitig, aber leider viel zu wenig, und wir haben fast keine körperlichen Reserven mehr. Niemand von uns hat bisher gewußt, was Hunger ist. Auch wenn im Einsatz einmal Munition wichtiger als Verpflegung war oder wir im Kampfgetümmel von unserem Troß getrennt waren, so hat sich immer ein Weg gefunden, etwas Eßbares aufzutreiben. Hier aber gibt es nur die karge Verpflegung, die uns die Amerikaner zubilligen. So verbreitet sich der Hunger in den Erdlöchern und ein Gefühl kommt auf, das wir bisher überhaupt nicht kannten: die Gier! Und mit ihr zieht Mißtrauen in die Herzen ein. Zank, Neid und Habgier breiten sich aus. Wo es ums nackte Überleben geht, spielen Erziehung und Kultur bald keine Rolle mehr. Auch im engsten Kameradenkreis ist Wachsamkeit geboten, damit diese Gefühle nicht die Gemeinschaft zerstören. Von uns vieren ist es Martin Schmidt, der einfach keine unguten Gefühle oder gar Zwietracht aufkommen läßt. Zwar geht er uns mit seinen Sprüchen oftmals auf die Nerven, doch kann man ihm auch in Dreck und Elend einfach nicht böse sein. Der Hunger treibt allerdings auch andere Blüten, denn an den Umzäunungen entwickelt sich mit den Posten ein reger Tauschhandel. Uhren, Ringe, Füllfederhalter, Kriegsauszeichnungen, einfach alles, was die Landser noch haben, setzen sie dort in Lebensmittel, vor allem aber in Tabakwaren um. Viele scheuen sich nicht einmal, ihre Eheringe gegen Zigaretten einzutauschen, was für uns Nichtraucher einfach unverständlich ist.

 

Dieser Handel nimmt mit der Zeit einen derartigen Umfang an, daß sich die Lagerleitung gezwungen sieht, die Posten unmittelbar von den Umzäunungen abzuziehen und die Käfige mit einem Streifen Niemandsland zu umgeben, der von den Posten nur bei Kontrollgängen mit ihren Spürhunden betreten werden darf. Die Einhaltung dieser Anordnung wird von der Military Police überwacht, die ständig mit ihren Jeeps an den Lagern entlang fährt.

 

Am Samstag (28.04.) ist es genauso kalt und regnerisch wie an den Vortagen. Gegen Mittag fährt ein Lautsprecherwagen die Lagerstraße entlang und gibt Nachrichten vom 26.04. bekannt: Amerikaner und Russen treffen sich bei Torgau an der Elbe - Engländer nehmen Bremen ein - Amerikaner besetzen Regensburg und Ingolstadt - Russen erobern Potsdam und Spandau - Zusammenbruch der deutschen Italienfront - Mussolini gefangengenommen - Göring abgesetzt.

 

Nachmittags werden neue Gefangene in unseren Käfig eingewiesen. Einige von ihnen stürmen sofort auf die freie Fläche los, wo der zugeschüttete Bombentrichter liegt. Dort fangen sie an zu buddeln, wobei sie natürlich die hier verscharrten Hinterlassenschaften der früheren Latrine wieder ausgraben. Vor allem vier junge Gebirgsjäger fallen uns auf, denn sie graben einen über zwei Meter tiefen runden Schacht, in dem sie stufenweise die Wände aushöhlen, um sich Schlafnischen zu verschaffen, wie man sie in den Katakomben von Rom finden kann. In diesen Nischen hoffen sie wohl wie in Abrahams Schoß zu schlafen.

 

Soweit wir es beurteilen können, liegt der Schacht am Rande des ehemaligen Bombentrichters, so daß die Wände teils aus gewachsenem und teils aus angefülltem Boden bestehen. Den Aushub haben die vier wie einen Wall um die Einstiegsöffnung aufgeschichtet und einige dicke Steine ausgesondert, um damit eine aufgespannte Zeltbahn zu befestigen, die den Schacht gegen Regen schützen soll. Wir wundern uns, woher die jungen Leute noch soviel Kraft nehmen, um in kurzer Zeit einen solchen Schlafschacht herzustellen.

 

Auch neben unserem Schlafplatz wurde im Laufe des Tages ein Schlafloch ausgehoben und wir hatten Mühe genug, dafür zu sorgen, daß der Aushub auf dem Nachbargrundstück geblieben ist. Wir vier schlafen wieder auf Martins Gummiplane und können nun den Erdwall vom Nachbarloch als willkommenen Windschutz nutzen.

 

Der total verregnete Sonntag (29.04.) vermittelt uns dann einen nachhaltigen Eindruck von den Hygienevorstellungen der Amerikaner. Gegen 10 Uhr rückt nämlich ein Trupp Sanitäter an, bewaffnet mit großen Flitspritzen und einigen Dosen DDT-Insektengift. Damit werden wir dann auf amerikanisch entlaust. Jedem wird vorne und hinten in den Halsausschnitt, in jeden Ärmel, vorne und hinten in den Hosenbund und zum Schluß noch unter die Mütze eine derartige Ladung Pulver gespritzt, daß wir im Nu in eine gewaltige Giftwolke gehüllt sind und hustend und prustend nach Luft ringen. Nach dieser Prozedur dauert es geraume Zeit, bis wir Augen, Ohren und Nasen wieder von dem Giftstaub befreit haben.

 

Um die Mittagszeit sickert ein Gerücht durch, das eigentlich niemand glauben kann. Es besagt nämlich, daß das ganze Lager geräumt und alle Insassen in Kürze entlassen werden sollen. Diese Mitteilung schlägt beinahe wie eine Bombe ein, und aus den dumpf dahinbrütenden Landsern wird plötzlich eine quirlige, überdrehte Masse. Das Thema "Entlassung" weckt die Lebensgeister, bringt die Phantasie auf Hochtouren und sogt den ganzen Tag für Gesprächsstoff . Eigentlich ist es ganz gut, sagen wir uns, daß wir vier noch kein Loch gebuddelt und unsere Kräfte dabei vergeudet haben. Doch allzu schnell stellt sich heraus, daß die ganze Aufregung umsonst war und man uns mit dieser Parole nur zum Narren gehalten hat.

 

Wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgekehrt sind wir es allmählich leid, kein eigenes Loch zu haben. Also geht Martin ernsthaft auf die Suche nach einem Feldspaten. Tatsächlich kommt er auch mit einem Spaten zurück, für den wir allerdings ein Paket Tabak als Nutzungsgebühr entrichten müssen. Doch das spielt im Augenblick keine Rolle, Hauptsache ist, daß wir endlich mit der Arbeit beginnen können. Dabei erleben wir allerdings gleich zu Anfang eine böse Überraschung: wir sind nämlich so entkräftet, daß wir immer nur ein paar Minuten arbeiten können und dann völlig erschöpft pausieren müssen.

 

"Ja, ja, der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach", zitiert Martin die bekannte Bibelstelle (Mt 26,41 oder Lk 14,38) in seinem Sinne, der sich nicht unbedingt mit dem deckt, was die Evangelisten sagen wollen. Aber wir wissen, was er meint. Immerhin hat er als früherer Zwei-Zentner-Mann von uns noch die meisten Kraftreserven, so daß er über uns "Schlappschwänze" gut lästern kann. Dafür leistet er aber auch die meiste Arbeit, und zwar - genau der Bibel entsprechend -  "im Schweiße seines Angesichts" (Gen 3,19). Und entscheidend ist allein der Erfolg.

 

Da von unserer Vierer-Schlafgemeinschaft Karl-Heinz Baumgart woanders unterzukommen hofft, bleiben als Anwärter für das Loch nur noch Martin, Hein Bittner und ich übrig. Hein stammt aus Breslau, ist klein und stämmig, aber mindestens 15 Jahre älter als wir beiden anderen und von der zweiwöchigen Hungerkur noch deutlicher gezeichnet als wir. Und ich habe als "schmales Handtuch" von uns dreien sicher die geringsten Kraftreserven, so daß wir entweder abwechselnd tagelang an dem Loch herumbuddeln müssen oder Martin die Hauptarbeit überlassen und schneller fertig werden.

 

Und dabei ist auf Martin Verlaß! Denn er setzt seinen ganzen Ehrgeiz ein, um uns zu zeigen, wozu er trotz der Hungerzeit noch fähig ist. Jedenfalls hat er bis zum Verpflegungsempfang das Loch fertig ausgehoben, so daß wir beiden anderen nur noch die Seitenwände etwas aushöhlen und am Fußende für Martin eine besondere Höhle anlegen müssen. Schweißtriefend sind wir damit gerade fertig, als die Verteilung bis zu den Fünfergruppen fortgeschritten ist.

 

Durch den ständigen Nieselregen ist der Boden in unserem Loch aufgeweicht worden, so daß wir bei der nächsten Regenpause zunächst mit Konservendosendeckeln eine dünne Schlammschicht wegkratzen müssen, bevor wir den Boden mit Pappstücken belegen können, die wir vorsorglich gesammelt haben. Dann probieren wir die Grube aus: Martin kommt an die linke Seite, Hein an die rechte und ich in die Mitte. Nachdem wir uns über die Plätze einig geworden sind, spannen wir Martins Gummiplane quer über das Loch und befestigen sie auf den Wällen rechts und links mit Erde oder Feldsteinen, die wir beim Ausbuddeln gefunden haben. Dabei stellen wir fest, daß die Plane zu schmal ist, um das ganze Loch zu bedecken. Am Fußende bleibt ein etwa 60 cm breiter Streifen übrig, in den es hineinregnen kann. So können wir nur mit angezogenen Beinen vollständig im Trockenen liegen, denn die Wolldecke, die Hein mitgebracht hat, benutzen wir lieber zum Zudecken während der Nacht statt sie als Regenschutz über den freien Streifen zu spannen.

 

So beschließen wir diesen Sonntag zwar völlig erschöpft von der ungewohnten körperlichen Arbeit, aber auch zufrieden darüber, daß wir nun ein eigenes "Zuhause" haben. Wir fühlen uns wie Goldgräber, die gerade ihr Claim abgesteckt haben, denn hier haben wir ein Stück Erde, das wir für uns allein beanspruchen können. Zur Abgrenzung nach außen haben wir die ausgeworfene Erde an drei Seiten zu einem Wall aufgeschüttet und nur die Fußseite zum Einsteigen freigelassen. Auch eine Regenrinne haben wir angelegt, um nicht von einem Wassereinbruch überrascht zu werden.

 

Während der ganzen Nacht regnet es leise, aber beständig weiter, erst am Montagmorgen (30.04.) kommt die Sonne durch. Wir haben zwar versucht, mit angezogenen Beinen zu schlafen, sie dann im Schlafe aber doch ausgestreckt, so daß wir mit völlig durchnäßten Schuhen, Socken und unteren Hosenbeinen erwachen. So sind wir froh, daß nun die Sonne scheint und wir auf unserem Erdwall sitzend die Sachen am Körper trocknen lassen können. Auch müssen wir uns nicht - wie bei Regen - ständig im Loch aufhalten, das zum aufrechten Sitzen nicht tief genug ist. Aber es war schon mühselig genug, die Grube auf diese Tiefe zu bringen, eine weitere Kraftanstrengung haben wir uns einfach nicht zugemutet. Und zudem wollten wir auch nicht sofort wieder mit dem Wühlen in der Erde beginnen.

 

Wenn wir nicht gerade um Wasser anstehen, das Verteilen der Verpflegung beobachten oder unser Essen zubereiten, dösen wir meistens vor uns hin. Eine Unterhaltung erscheint uns zu anstrengend, und so hängt jeder einfach seinen eigenen Gedanken nach. Wichtig ist nur, daß ständig einer von uns in der Nähe des Loches bleibt und Platzwache hält.

 

In Tagträumen stellen wir uns vor, wie schön es wäre, ein richtiges Dach über dem Kopf zu haben; wenn wir wenigstens in trockenen Zelten liegen könnten wie die Frauen im Käfig am Hauptlagertor. Doch außer dem Sani-Zelt gibt es keinerlei Unterschlupf für uns, genau wie es General Eisenhower befohlen hat, indem er fordert, daß die Gefangenen-Enclosures "kein Obdach noch irgend einen anderen Komfort bieten" sollen. Viele Gefangene haben nicht einmal ein Loch wie wir, sondern irren ruhelos im Käfig umher, immer auf der Suche nach einem Platz, wo sie wenigstens sitzen und etwas dösen können. Doch der Boden ist inzwischen restlos verteilt, die Zwischenräume zwischen den einzelnen Löchern mit ihren Wällen sind auf Trampelpfade zusammengeschrumpft, allein am Latrinengraben entlang gibt es noch etwas "Niemandsland", auf das niemand Anspruch erhebt.

 

Der "Wonnemonat" Mai beginnt am Dienstag mit strahlendem Sonnenschein. Dennoch rutscht in unserer Nachbarschaft ein Loch an einer Seite ein, weil sich die Erde während der Regenperiode mit Wasser vollgesogen hat und der Wall so schwer geworden ist, daß er nun mitsamt dem darunter befindlichen Erdreich eingebrochen ist. Dadurch sind einige Batteriekameraden vom Funktrupp obdachlos geworden, darunter auch Gerd Eifer aus Wuppertal und Karl-Heinz Baumgart aus Iserlohn. Während Karl-Heinz über eine Zeltbahn verfügt, hat Gerd nicht einmal eine Decke oder einen Mantel. So rücken wir drei zusammen und nehmen ihn zusätzlich in unser Loch auf. Er ist schon immer ein Leichtgewicht gewesen und nun durch die unzureichende Verpflegung noch schmaler geworden als ich. Aus Dankbarkeit hilft er, unser Loch noch etwas tiefer zu graben, damit wir unter der Gummiplane aufrecht sitzen können

 

Ich habe in meiner Kartentasche noch immer ein Deutsches Kartenspiel, wie es in Süddeutschland üblich ist, wo kaum das "französische Blatt" benutzt wird. Auf Martins Drängen krame ich nun dieses Spiel, das ich übrigens noch heute besitze, hervor, und wenn es das Wetter zuläßt und wir die Beine ausstrecken können, vertreiben wir uns die Wartezeit vor den Verpflegungsausgaben nun mit Kartenspielen. Meist spielen wir "Schlesische Bank", weil uns "Siebzehn und Vier" auf die Dauer zu langweilig ist. Natürlich spielen wir auch um Geld, damit das Spielen seinen Reiz behält. Aber die Gewinne und Verluste bleiben bei diesem Spiele durchaus im Rahmen. Doch so vergeht die Zeit zwischen den Verpflegungsausgaben etwas schneller und wir haben weniger Gelegenheit, über unsere trostlose Lage nachzudenken und zu lamentieren. Und das ist ja schließlich der eigentliche Zweck der Übung.

 

Am Mittwoch (02.05.) regnet es den ganzen Vormittag, dann aber bleibt es trocken. Bei Tage können wir unter unserer Plane mit angezogenen Beinen sitzen und vermeiden, daß unsere Füße naß werden. Nachts aber wiederholt sich immer das gleiche Fiasko. Im Schlafe strecken wir die Beine aus und morgens gibt es dann durchweichte Schuhe, nasse Socken und Hosenbeine und eiskalte Füße. Deshalb freuen wir uns über jede niederschlagsfreie Nacht.

 

Obwohl wir durch ständige Neuzugänge inzwischen in unserem Käfig zu einem ziemlich bunten Haufen geworden sind, vollzieht sich die Verpflegungsausgabe auch weiterhin geordnet und ohne nennenswerte Störungen. Ebenso wichtig wie die Verpflegung ist mittlerweile auch die Verpackung geworden, die wir dringend als Brennmaterial benötigen. Es sind nämlich immer mehr geworden, die sich ihr Essen kochen wollen. Gestern Abend hat der Ami sogar Brennholz angeliefert, das heute nach der Verpflegungsausgabe genauso penibel verteilt wird wie die Lebensmittel. Hin und wieder fällt auch mal ein Karton oder Sack ab, so daß die Schlafunterlage erneuert oder verbessert werden kann.

 

Donnerstag, der 3.Mai, beginnt mit einem schönen Sonnenaufgang und bleibt auch sonnig bis zum Abend. Wenn wir bisher etwas von Krankheiten gehört haben, die im Lager aufgetreten sind, so war das immer weit weg von uns. Heute aber kommen wir mit diesem Übel unmittelbar in Berührung. Schon in der letzten Nacht war Hein Bittler auffallend unruhig und hat wiederholt vor sich hin gestöhnt. Bei Tageslicht aber sieht man ihm an, daß er ziemlich hohes Fieber hat. Er hat glänzende Augen, heiße rote Wangen, aber eiskalte Hände und fröstelt am ganzen Körper. Er ist wesentlich älter als wir und sicher nicht mehr so widerstandsfähig.

 

Er war als Obergefreiter schon in Rußland bei unserer Division, wurde verwundet und mehrfach ausgezeichnet und hat alles, was der Krieg mit sich brachte, heil überstanden. Nun aber hat es ihn böse erwischt. Da wir ihm unmöglich helfen können, melden wir den Krankheitsfall unserem Hundertschaftsführer, und der sorgt dafür, daß er ins Sani-Zelt überführt wird. Das ist jedoch bereits heillos überfüllt, so daß er zunächst nur in der Nähe des Zeltes auf die Erde gebettet und mit einer Wolldecke eingewickelt werden kann. Der Sanitätsfeldwebel , der hier das Sagen hat, verspricht zwar, ihn beim nächsten freiwerdenden Platz ins Zelt aufzunehmen, doch wer weiß, wann das sein wird. Bisher ist kaum jemand, der im Sani-Zelt war, in sein Loch zurückgekehrt. Die meisten sind nicht wieder genesen und wurden entweder als Kranke entlassen und als Tote aus dem Lager gebracht. Wie es Hein Bittner ergangen ist, weiß nur er selbst, wir anderen haben jedenfalls nie wieder etwas von ihm gehört.

 

In letzter Zeit mehren sich auch die Berichte über schwere Massenerkrankungen, bei denen Gefangene sich durch Erschöpfung und Unterernährung Erkrankungen der Atemwege, Brechdurchfall und Ruhr, oder auch Typhus zuzogen und wegen der unzureichenden hygienischen Verhältnisse in den Käfigen einfach im Dreck umkamen. Auch wenn bei uns im Käfig die Todesrate sehr gering ist, so wurden von den Amerikanern bis zum 8. September 1945 739.239 Todesfälle amtlich festgestellt, deren Ursachen ausschließlich auf die Behandlung in den Lagern zurückzuführen sind.

 

Durch Hein Bittners Ausscheiden haben wir nun mehr Platz in unserem Loch, und Martin und ich, die wir uns als die eigentlichen "Hausherren" fühlen, weil Gerd Eifer erst später als Nachfolger von Karl-Heinz Baumgart zu uns gekommen ist, überlegen, ob wir es uns etwas bequemer machen oder einen "Obdachlosen" bei uns aufnehmen sollen. Doch schon am gleichen Abend bringt Martin seinen alten Bekannten Matthes Hassel aus Worringen an, mit dem er schon eine Spritztour nach Hause unternommen hat, als wir zur Auffrischung am Niederrhein waren. Und dieses gemeinsame "unerlaubte Entfernen von der Truppe" verbindet sie offenbar noch heute.

 

Matthes hat zwar keine Bleibe, aber als früherer Kradmelder einen wasserdichten Fahrermantel, mit dem wir des Nachts den freien Streifen unseres Loches gut abdecken könnten. Dann könnten wir auch endlich mit ausgestreckten Beinen schlafen. Also nehmen wir ihn als vierten Mann in unser Loch auf und weisen ihm den Platz zwischen Gerd und Martin zu. Seit Hein nicht mehr da ist, schlafe ich auf seinem Platz am linken Rande unseres Loches.

 

Wie der Donnerstag geendet hat, so beginnt der Freitag (04.05.): wolkig und windig, aber trocken. Ausgerechnet während der Verpflegungsausgabe fängt es dann aber an zu regnen, und das nicht zu knapp. Abends taucht eine neue Parole auf, die besagt, daß am Samstagmorgen das Cage geräumt werden soll. Natürlich glauben wir nicht daran, so sehr wir uns auch wünschen, endlich aus diesem Dreck herauszukommen. Während der kommenden Nacht regnet es weiter in Strömen, und wir sind nicht nur schlaftrunken, sondern auch sauer, als wir um fünf Uhr mit dem Befehl geweckt werden: "Fertigmachen zum Antreten mit Gepäck!"

 

Ohne Rücksicht darauf, daß es ununterbrochen regnet, treten die in unserem Käfig untergebrachten Tausendschaften in Fünferreihen mit Gepäck innerhalb der Umzäunung entlang der Lagerstraße an. Zunächst läßt man uns eine volle Stunde im Regen stehen, dann ergeht der Befehl, das Lager zu verlassen. Mit schleppenden Schritten marschieren wir über die Lagerstraße auf ein freies Feld, wo sich die Tausendschaften, die aus allen Richtungen hier zusammenkommen, nun in Marschsäulen zu je zweihundert Fünferreihen nebeneinander aufstellen.

 

Polen und Amerikaner laufen immer wieder an den Kolonnen entlang und zählen die Reihen, damit auch jede Formation genau aus tausend Mann besteht. Manche zeigen mit dem Finger auf jeden Vordermann der Fünferreihen und sprechen laut mit: "Raz, dwa, trzy, cztery, piec, szesc, siedem, osiem dziewiec, dziesiec..." oder "one two, three, four, five, six seven, eight, nine, ten..."

 

Immer neue Tausendschaften kommen hinzu, so daß die Masse der hier Versammelten nicht mehr zu überblicken ist. Soweit das Auge reicht, sieht man nur noch eine einzige graue Menschenmasse. Doch der Zustrom will kein Ende nehmen. Woher die nur alle kommen, die in langen Kolonnen an uns bereits Angetretenen vorbeimarschieren, um sich weiter hinten anzuschließen.

 

So vergeht Stunde um Stunde. Die Polen und Amerikaner rennen genervt umher und verzählen sich immer öfter, so daß sie ständig neu beginnen müssen. Wir aber stehen triefend naß im Regen und hoffen, daß endlich etwas Entscheidendes geschieht. Doch das einzige, was sich tut, ist die Tatsache, daß einige Tausendschaften miteinander die Plätze in der Riesenversammlung tauschen müssen, ohne daß darin irgend ein Sinn zu erkennen wäre. Das Stehen wird allmählich zur Qual, Schwächeanfälle nehmen zu und immer wieder müssen zusammengebrochene Leidensgenossen von ihren Kameraden mühsam wieder auf die Beine gebracht werden.

 

Gegen 14 Uhr fährt ein Jeep heran, besetzt mit einem Sergeanten als Fahrer und drei Offizieren, die nun herausspringen und mit den in Kompaniestärke angetretenen Tausendschaftsführern sprechen. Wir hoffen, daß es nun endlich losgeht und wir das Lager für immer verlassen können. Aber die Enttäuschung und Ernüchterung folgen auf dem Fuße. Denn die Tausendschaftsführer kehren zu ihren Einheiten zurück und teilen mit, daß der ganze Aufmarsch nur einer Zählung gedient hat und wir wieder in unsere Cages zurückkehren müssen. Man habe lediglich wissen wollen, wieviele Gefangene es im Lager gäbe und sei bei dieser Zählung auf über 240 Tausendschaften gekommen.

 

Also trotten wir völlig erschöpft und vor Nässe triefend, stocksauer und total entnervt in unseren Käfig zurück. Unser Loch, in das es den ganzen Tag über hineingeregnet hat, gleicht eher einem Tümpel als einer Schlafstelle. Der Boden hat sich in eine Schlammfläche verwandelt, auf der zentimeterhoch das Wasser steht. Und so bleibt uns nichts anderes übrig, als den Schlamm mit Konservendosendeckeln zusammenzukratzen und ihn mit dem Wasser mit leeren Dosen aus dem Loch zu kippen.

 

Da alle Lochbesatzungen dasselbe Problem haben, wird die Umgebung der Löcher in kurzer Zeit von einer glitschigen braunen Masse überzogen, so daß wir uns auch nicht mehr auf die Wälle setzen können. Nun zahlt es sich aus, daß manche übervorsichtig waren. Weil sie dem Ami nichts Gutes zugetraut haben und sich von ihren Pappunterlagen nicht trennen wollten, haben sich viele unter den Mänteln und Decken ihre Pappstücke - eigentlich als Schutz gegen das Durchregnen - um den Bauch gewickelt, und haben nun trockene Schlafunterlagen. Alle anderen müssen zusehen, daß sie beim Verpflegungsempfang etwas mitbekommen, das man als Unterlage gebrauchen kann.

 

Zum Glück hat mit unserer Rückkehr in den Käfig der Regen aufgehört, so daß unsere mühevolle Arbeit sich wenigstens lohnt und nicht gleich wieder zunichte gemacht wird. Als wir es mit vereinten Kräften geschafft haben, unser Loch wieder benutzbar zu machen, verabschieden sich Matthes und Gerd und kehren zu ihren früheren Gruppen zurück, um dort bei der Wiederherstellung der Löcher zu helfen und sich dadurch einen Schlafplatz zu sichern.

 

Dies hat ein anderer älterer Obergefreiter, Alfred Elsensohn aus Kassel, wohl beobachtet, denn nun kommt er und fragt, ob er bei uns beiden unterschlüpfen darf, da sein früheres Loch völlig eingebrochen und kaum wiederherzustellen sei. Eigentlich sind wir von dieser Idee nicht sehr begeistert, weil Alfred in der Geschützstaffel im Rufe stand, egoistisch und unkameradschaftlich zu sein. Wir vermuten, daß er deswegen überhaupt zu keiner Lochgemeinschaft gehört hat, sondern zu den des Nachts wie Ahasver ruhelos umherziehenden Gestalten. Doch er bittet und bettelt solange, bis unser Mitleid stark genug ist, um ihn bei uns aufzunehmen.

 

Dabei hat Martin, der wegen seines großen Arbeitseinsatzes bei uns der Tonangebende ist, zuerst sein weiches Herz entdeckt. Er bringt es einfach nicht fertig, jemandem die Hilfe zu verweigern, der mit uns zusammen manchen Einsatz durchgestanden hat. Zudem besteht das Lager inzwischen aus einem Labyrinth von Tausenden von Löchern wie dem unsrigen und es gibt kaum noch eine freie Stelle, wo sich ein Einzelgänger niederlassen könnte. Die Löcher sind meistens mit Decken oder Zeltbahnen abgedeckt, manche aber auch mit lehmverschmiertem und durch Pappe verstärktem Astgeflecht, so daß nur noch die schmalen Trampelpfade zwischen den Löchern - und bestenfalls die Wälle um die Löcher herum - für jedermann zugänglich sind. Alfred ist daher sehr froh und erleichtert, daß er bei uns unterschlüpfen kann.

 

Während der Verpflegungsausgabe fährt wieder ein Lautsprecherwagen die Lagerstraße entlang und verkündet die neuesten Nachrichten: Kapitulation der gesamten deutschen Streitkräfte in Westdeutschland und Dänemark - Vereinigung der amerikanischen Armeen aus Italien und Süddeutschland - Zusammentreffen der US Army mit der Roten Armee auf einer 160 km langen Front südlich der Ostsee - völlige Zerstörung Berlins - letzter deutscher Widerstand im Kessel von Böhmen-Mähren und in Österreich.

 

Am Sonntagmorgen (06.05.) erleben wir eine grausige Überraschung: wo der Schlafschacht der Gebirgsjäger war, ist nun eine flache Schlammulde. Wieder hat es die ganze Nacht hindurch geregnet. Dadurch muß sich wohl vor allem der in den Bombentrichter gebrachte lockere Füllboden derart vollgesogen haben, daß er seine Stabilität verloren hat und einfach abgerutscht ist. Dann ist wohl auch das Wasser, das sich in der Umgebung gesammelt hat, ins Loch eingebrochen, hat das übrige Erdreich mitgerissen und die vier Schläfer unter sich begraben. Niemand hat etwas von diesem Unglücksfall bemerkt oder etwa Schreie der im Schlaf Verschütteten gehört.

 

Manchem, der sich vorstellt, was sich hier - von der Umgebung unbemerkt - in der letzten Nacht abgespielt hat, mag es kalt den Rücken hinunter laufen. Niemand weiß, wer die vier Soldaten waren und woher sie kamen. Beim Verpflegungsempfang werden vom Hundertschaftsführer lediglich "vier Abgänge" gemeldet. Unsere Gefühle sind durch die anhaltende Unterernährung derart abgestumpft, daß sich kaum jemand weitergehende Gedanken über die Katastrophe macht, die mitten unter uns geschehen ist. Die meisten zucken nur teilnahmslos mit den Schultern; sie sind mit dem eigenen Kampf ums Überleben vollauf beschäftigt.

 

"Die haben eben Pech gehabt" oder "Die sind wenigstens raus aus diesem Elend" sind die einzigen Kommentare, die man hören kann. Auf die Idee, die vier auszubuddeln, um ihre Identität festzustellen, kommt niemand. Sie tauchen später lediglich in der Rubrik "other losses" (sonstige Verluste) in der Statistik der Amerikaner auf.

 

Kurz nach Mittag hört es auf zu regnen und Martin schlägt vor, einen PW-Sparofen zu bauen. Auf einer Kochstelle aus Feldsteinen gehe zuviel Wärme verloren, meint er, und wenn wir bei anderen "nassauern", also unsere Kochgeschirre an ihre Flammen halten, gingen, verlangten die soviel Brennmaterial als Gegenleistung, daß uns gar nichts anderes übrig bleibe, als uns aus einer großen Konservendose einen solchen Ofen herzustellen. Jetzt weiß ich auch, warum er und Alfred eine große Gurkendose und etwas Stahlband sichergestellt haben, mit dem ein Verpflegungspaket umschlossen war.

 

Wichtigstes Werkzeug bei dieser Arbeit ist Martins "Schweizer Offiziersmesser", das er immer bei sich trägt. Also werden ringsum auf halber Höhe senkrechte Schlitze in die Dosenwand eingeschnitten, durch die dann das Stahlband hin und her durchgezogen wird, so daß eine Art Rost entsteht, auf dem dann später die Kochdose stehen soll. Im unteren Teil, wo das Feuer brennen soll, genügen ein paar Luftlöcher ringsum und eine Klappe vorne, durch die der Ofen mit Brennmaterial beschickt werden kann. Alfred und ich sind erstaunt, wie geschickt Martin dabei zu Werke geht, und uns fallen nicht einmal ein paar dumme Bemerkungen ein, um seine Arbeit mit "aufbauender Kritik" zu begleiten. Zudem vergeht auch beim Zusehen die Zeit bis zum nächsten Verpflegungsempfang schneller als gewöhnlich.

 

Nach dem Verpflegungsempfang kommt auch gleich die praktische Erprobung. Während Alfred auf die Benutzung des Ofens keinen Wert legt, vereinbaren Martin und ich, daß wir in abwechselnder Reihenfolge nacheinander, aber jeder für sich, kochen werden. Auch beim Entzünden des Feuers wechseln wir uns ab, und zwar darf derjenige, der das Feuer anzündet, als erster kochen. Das Brennmaterial muß jeder selbst besorgen. So hoffen wir - und die Erfahrung bestätigt es - , daß wir jeden Streit um die Benutzung des Ofens vermeiden können; denn Streit wäre das Letzte, was wir in unserer Lage gebrauchen könnten.

 

Alfred Elsensohn amüsiert sich über unsere Abmachungen, verspricht aber darauf zu achten, daß die Vereinbarungen auch eingehalten werden. Er selbst findet es bequemer, die Lebensmittel weiter so zu essen, wie er es immer getan hat: von der Hand in den Mund. Wenn er ausnahmsweise einmal etwas warm machen will, besorgt er soviel Brennmaterial, daß wir ihm gerne unseren Ofen überlassen.

 

Statt der bisher üblichen Kekse wird heute zum ersten Mal Brot geliefert, allerdings pro Tausendschaft nur ein Papiersack mit 20 Broten, so daß uns die reizvolle Aufgabe zufällt, jeden Laib dieses ohnehin wenig nahrhaften Weißbrots auf fünfzig Mann zu verteilen. Aber wir haben ja inzwischen Erfahrung im Verteilen, und so schaffen wir es, daß am Ende jeder eine etwa gleich große Kostprobe vom Brot bekommt. Als wir die Verteilungsschwierigkeiten über den Tausendschaftsführer dem Ami melden, wird die Brotration erhöht, so daß wir nun ein Brot nur noch auf zwanzig Mann aufteilen müssen.

 

Am Montagmorgen (07.05.) erleben wir die nächste makabre Überraschung, die uns dieses Mal allerdings wie ein Schock in die Glieder fährt. In der Nacht hat sich nämlich ein älterer Mitgefangener, der wohl zu den Einsamen im Lager gehört hat, auf dem Erdwall rechts neben unserem Loch zum Schlafen niedergelegt. Aus diesem Schlaf ist er allerdings nicht wieder erwacht und starrt nun mit gebrochenen Augen aus seinem fleckigen, schmutzverschmierten Gesicht in die Morgensonne. Uns dreht sich bei dieser Entdeckung nicht nur der Magen um, die Nähe des Todes läßt uns regelrecht frösteln und jagt uns kühle Schauer über den Rücken. Wir melden den Todesfall sofort im Sani-Zelt, und kurz darauf wird der Leichnam abgeholt, wieder ein Fall, den die Armeebürokratie unter "OTHER  LOSSES" verbuchen wird.

 

Nach diesem Schrecken in der Morgenstunde brauchen wir geraume Zeit, um den grausigen Zwischenfall seelisch zu verarbeiten. Zwar haben wir diesen Mitgefangenen nicht persönlich gekannt, ja ihn nicht einmal bewußt gesehen, aber an derselbe Stelle hat noch vor kurzem Hein Bittner gesessen, bevor wir ihn zum Sani-Zelt gebracht haben. Vermutlich hat er seine Fieberattacke nicht überlebt, und nun hat uns der kühle Hauch des Todes unmittelbar berührt, und die an die biblische Apokalypse erinnernde schreckliche Umgebung, in der wir hausen, wird uns plötzlich in ihrer ganzen Brutalität bewußt. Nun spüren wir es hautnah, was Eisenhower gemeint hat, als er "no shelter nor any other comfort" angeordnet hat.

 

Zum Glück meint es das Wetter heute gut mit uns, und die Sonne, die das Gesicht des Toten mit ihren ersten Strahlen getroffen hat, bleibt uns den ganzen Tag über erhalten. Ab Mittag ist der Himmel völlig wolkenlos und wir können die wohlige Wärme genießen. Endlich können wir auch die feuchte, zum Teil bereits stockig gewordene, Kleidung ausziehen, auslüften und richtig trocknen lassen. Bisher haben wir sie ja Tag und Nacht nicht vom Leibe bekommen. Vor allem haben wir es nicht gewagt, die immer wieder von neuem durchweichten Schuhe auszuziehen, weil wir befürchteten, sie nicht wieder anziehen zu können. So sind Schuhe, Socken und Füße abwechselnd naß und einigermaßen trocken geworden.

 

Nun aber sitzen alle herum, haben Schuhe und Strümpfe ausgezogen und massieren sich die arg strapazierten Füße mit den Händen. Dann fängt einer an, sich zu rasieren und bald sind alle - dem Herdentrieb folgend - dabei, ihre struppigen Bärte abzukratzen. Manche entblößen sogar ihren Oberkörper, um ihn von der Sonne bescheinen zu lassen. Es ist ein Bild des Jammers und erinnert stark an die in der Bibel beschriebene Auferstehung der Toten, wenn man diese ausgemergelten Leiber mit den vorstehenden Rippen und den dünn gewordenen Armen inmitten der einem Gräberfeld gleichenden Umgebung sieht.

 

Doch die Sonne bringt nicht nur Freude, sie hält auch eine ziemlich böse Überraschung für uns bereit: unsere Füße sind durch die wochenlange Vernachlässigung überempfindlich gegen Berührungen geworden. Sie waren einfach zu lange in den engen Schuhen eingepfercht und sind sehr oft naß und wieder trocken geworden, ohne jemals an die Luft zu kommen. Nun scheinen sämtliche Gefühlsnerven zu rebellieren. denn die geringste Berührung - von einem noch so leichten Anstoßen ganz zu schweigen - jagt Schmerzwellen durch den ganzen Körper. Eine solche Hyperästhesie haben wir noch nie erlebt und sind völlig ratlos, um etwas dagegen zu unternehmen. Es ist einfach unmöglich. ohne heftigste Schmerzen in den Ballen und Zehen zu stehen oder gar zu gehen.

 

Im Laufe des Tages sehen wir dann, daß nicht nur wir drei von diesem Leiden befallen sind, sondern daß nur noch wenige Lagerinsassen überhaupt normal umhergehen. Die meisten haben eine ganz neue Gangart erfunden: um den Schmerzen auszuweichen, kriechen sie auf Händen und Knien mit erhobenen Füßen umher. Wie Paviane auf einem Affenfelsen bewegen sich Hunderte, ja Tausende erwachsener Männer hier im Lager, ein wahrhaft makabrer Anblick für unsere Bewacher. Zufällig entdeckt jemand beim Wasserholen, daß man sich mit den Füßen im Wasser und im kühlenden Schlamm schmerzfrei aufrecht bewegen kann. Dabei kommt uns der Umstand entgegen, daß an der Zisterne, die sich in der Nähe unseres Käfigtores befindet, der Zapfhahn undicht geworden ist und nicht mehr richtig zugedreht werden kann. Vielmehr läuft seit Tagen ununterbrochen Wasser aus. Und wenn gerade keine Dose darunter gehalten wird, fließt es ungenutzt auf die Erde.

 

Dadurch wird der Wasserbehälter aber auch schneller leer als die Tankwagen ihn nachfüllen können. Außerdem hat sich um die Zapfstelle herum bereits eine braune Schlammlache gebildet, die sich ständig vergrößert. Selbst die in der Nähe liegenden Schlaflöcher sind bereits vollgelaufen, und die Bewohner mußten sich nach einer anderen Bleibe umsehen. Und die ist bei der dichten Belegung nur zu finden, wenn dadurch Platz entsteht, daß jemand als Kranker oder Toter das Lager verläßt.

 

Nun aber wird die Zisterne nicht nur von Wasserholern umlagert, sondern auch von einer immer größer werdenden Zahl Fußkranker, die im Schlamm und im Wasser Linderung ihrer Schmerzen suchen. Da man durch das trübe Schlammwasser den Untergrund nicht sehen kann, ist es unmöglich, die Wassertiefe abzuschätzen oder die Umrisse der Löcher zu erkennen, so daß es immer wieder geschieht, daß jemand in ein überflutetes Wohnloch gerät und in der braunen Brühe untertaucht. Auch sind die Ränder der Löcher so glitschig geworden, daß es praktisch kein Halten gibt, wenn man ihnen zu nahe kommt.

 

Bei der Verpflegungsausgabe gibt es heute nicht den gewohnten Andrang von Zuschauern und aufmerksamen Beobachtern. Die meisten können weder schmerzfrei stehen noch gehen und sind froh, wenn aus jeder Fünfergruppe einer in der Lage ist, zur Ausgabestelle zu gehen und die Sachen abzuholen. Bei uns im Loch ist Alfred Elsensohn noch am besten dran, denn das ständige Umherlaufen, bevor er zu uns kam, war für seine Füße sicher besser als wenn er - wie wir - still im Loche gesessen hätte. Jetzt sind wir dem Himmel dankbar, daß wir ihn aufgenommen haben, denn Martin leidet unter der Hyperästhesie nicht minder als ich.

 

Beim Zubereiten der Verpflegung haben wir gelernt, daß es am besten ist, wenn wir wegen der ganz unterschiedlichen Rohmaterialien, die oft nicht zu einander passen, zwei verschiedene "Suppen" zubereiten, nämlich eine "Gemüsesuppe" und eine "süße Suppe". So können wir alle Zutaten mit Ausnahme des Kaffeemehls sinnvoll verwenden. Manche lassen sich alles, was sie bekommen, in eine größere Dose füllen, geben Wasser dazu und erwärmen das Ganze zu einer undefinierbaren Suppe, die zwar nicht besonders schmeckt, dafür aber den ständig knurrenden Magen füllt. Einige nehmen sogar das Kaffeemehl hinzu und erhalten eine braune "Erfrischungssuppe", die intensiv nach Kaffee schmeckt und riecht, aber auch die Lebensgeister weckt. Martin und ich verwenden das Kaffeemehl überhaupt nicht, sondern sammeln es in einem kleinen selbstgenähten Beutel. Wozu das gut sein soll, wissen wir selbst nicht, aber es widerstrebt uns einfach, irgend etwas wegzuwerfen. Alfred dagegen rührt sich damit einen Kaffeebrei an, der ihm offenbar ganz gut bekommt.

 

Abends geraten unsere amerikanischen Posten plötzlich außer Rand und Band, werfen jubelnd ihre Stahlhelme in die Luft und veranstalten einen Riesen-Feuerzauber, indem sie aus Gewehren und Maschinenpistolen Lichtspurgeschosse in den Himmel ballern, als gehe es darum, möglich bald sämtliche Munition zu verschießen. Wir werden von diesem Gebaren völlig überrascht und können uns nicht erklären, was die Amis zu einem solche Höllenspektakel veranlaßt haben könnte.. Doch dann hören wir sie grölen: "War is over, war is over!" Sie müssen vor Freude ganz außer sich sein, und wir gewinnen den Eindruck, daß auch Alkohol dabei im Spiele ist, denn der Lärm hält die ganze Nacht hindurch an.

 

Der Krieg muß also zu Ende sein. Doch löst diese Tatsache bei uns zunächst keine positiven Gefühle, geschweige denn Freude, aus. Vielmehr geht uns die Ballerei mit der Zeit gewaltig auf die ohnehin genug strapazierten Nerven. Nur Martin versteht es wieder einmal, das Beste daraus zu machen. Er entdeckt ja überall einen positiven Kern und verkündet nun voller Zuversicht: "Jetzt geht es bald nach Hause!"

Da der Tumult überhaupt kein Ende nimmt, ist in dieser Nacht an Schlafen nicht zu denken. Am Dienstagmorgen (08.05.) fährt dann schon in aller Frühe der Lautsprecherwagen über die Lagerstraße, um eine Erklärung aus dem Hauptquartier General Eisenhowers zu verlesen. Sie lautet:

 

"Alle deutschen Land-, See- und Luftstreitkräfte in Europa haben sich am 7.Mai l,4l Uhr mitteleuropäischer Zeit den alliierten Streitkräften im Westen und gleichzeitig dem russischen Oberkommando bedingungslos ergeben."

 

Diese Nachricht erreicht uns mit der aufgehenden Sonne, die uns den ganzen Tag hindurch erhalten bleibt. Überall sitzen Landser, die sich gründlich waschen und rasieren, während sie ihre Socken in der Sonne trocknen. Auch die Zahl derer, die wieder normal gehen können, wird stündlich größer. Die Sonne hat bereits eine solche Macht, daß nicht nur der Boden trocken wird, sondern sogar aufreißt wie in einem ausgetrockneten Tümpel. Immer mehr entblößen auch ihren Oberkörper und lassen sich von der Sonne bescheinen. Martin und ich beteiligen uns dabei nicht, weil wir wegen unserer hellen Haut einen Sonnenbrand befürchten.

 

Wenn die Nacht schon unruhig war, so bricht um 9 Uhr morgens erst recht die Hölle los. Es beginnt mit einem fernen Grollen im Süden, das sich sehr schnell zu einem wahren Orkan auswächst. Und dann dröhnen viermotorige Bomber im Tiefflug über den Rhein und unser Lager hinweg. Vom Flugzeugerkennungsdienst her kennen wir die verschiedenen Typen der Maschinen, die wir nun aus nächster Nähe bewundern können:  neben "Boeing B-17 Flying Fortress" und "Boeing B-29 Superfortress" sind es vor allem "Consolidated B-24 Liberator"- Bomber, die pausenlos über uns hinweg brausen.

 

Wie es heißt, ist dies die aus Italien zu ihren Stützpunkten in Belgien und Frankreich zurück- kehrende amerikanische Luftflotte. Es müssen Hunderte, wenn nicht Tausende, von Maschinen sein, die hier von ihren Piloten in oft waghalsigen Manövern so tief geflogen werden, daß wir die Besatzungen in den Kanzeln und MG-Ständen, aber auch im Cockpit und an den verschiedenen Fensteröffnungen beobachten können, wie sie lachen und zu uns herunter winken. Wahrscheinlich überfliegen sie auf diese Weise alle vierzehn Gefangenenlager am Rhein von Mannheim bis Büderich, bevor sie zu ihren Standorten zurückkehren.

 

Bei dem Höllenlärm, den die Maschinen verursachen, kann man sich kaum miteinander verständlich machen, und bald schmerzen uns die Ohren von dem ständigen Gedröhne. So verliert diese ungewöhnliche Luftparade schnell ihren anfänglichen Reiz und wird von uns nur noch als lästige Störung empfunden.

 

Diese Störung wird noch dadurch verstärkt, daß die hochtourig betriebenen Motoren einen Luftzug erzeugen, der alles mitreißt, was niet- und nagellos ist. Vor allem werden Toilettenpapierfetzen von den Latrinengräben hochgewirbelt und natürlich auch aus dem Käfig, in dem die Ruhr ausgebrochen ist. Sie regnen dann auf das gesamte Lager herab und erzeugen panische Angst vor einer Ansteckung. Immerhin hält der Tod ohnehin schon reiche Ernte in den Käfigen, denn es sind im Durchschnitt 200 Personen, die Tag für Tag herausgebracht werden.

 

Auch bei der Verpflegungsausgabe müssen wir aufpassen, daß nichts wegfliegt oder vom aufgewirbelten Staub verschmutzt wird. Wir kommen uns vor wie in einem Hurrikan, der über das Lager hinwegbraust, nur daß dieser Orkan mit einem Lärm ohnegleichen daherfährt und nach unserem Empfinden ganz gezielt veranstaltet wird, um uns zu demütigen und die Überlegenheit der Sieger zu demonstrieren. Als der Höllenlärm mit dem Einbruch der Dunkelheit zu Ende geht, klingen uns noch stundenlang die Ohren, bis wir schließlich vor Erschöpfung in den Schlaf fallen.

 

Und das soll ein "Tag der Befreiung" sein? Eine solche Bezeichnung, wie sie Richard von Weizsäcker 40 Jahre später prägt, hätten wir als den Gipfel des Zynismus empfunden.

 

Wenn wir allerdings geglaubt haben, mit dieser Flugschau sei der Spuk vorüber, so werden wir bereits am Mittwochmorgen (09.05.) eines schlechteren belehrt. Denn kaum ist die Sonne aufgegangen, da geht das Theater wieder los. Pausenlos donnern die viermotorigen Bomber wieder im Tiefflug über uns hinweg. Manche Piloten ziehen die Riesenvögel über dem Rhein sogar so tief auf den Fluß herunter, daß man von uns aus den Eindruck hat, als rasten sie über die Erde. Dazu brennt die Sonne gnadenlos vom wolkenlosen Himmel auf die knochentrockene aufgerissene Erde. Den einzigen Schatten gewähren die Bomber, die mit ohrenbetäubendem Lärm und Wolken von Staub und Sand ein wahres Inferno entfesseln.

 

Wir hoffen von Minute zu Minute, daß irgendein Flugzeug das letzte dieses nicht enden wollenden Bomberstromes ist, doch es müssen wohl Tausende von Maschinen sein, die diese nervenaufreibende Luftparade über uns veranstalten. Jedenfalls vergeht Stunde um Stunde bis am späten Nachmittag plötzlich Ruhe eintritt und wir - fast taub vom Lärm und blind vom Staub in den Augen - endlich wieder ruhig durchatmen können.

 

Bei der ganzen Unruhe nehmen wir kaum wahr, daß die Verpflegung heute besonders reichhaltig ist. Es gibt nämlich nicht nur - wie inzwischen üblich - für je 20 Mann ein Weißbrot, sondern zum ersten Mal Kartoffeln, und zwar pro Person gleich zehn Stück, nämlich 2 dicke, 4 mittlere und 4 kleine. Die weitere Verpflegung ist weniger ungewöhnlich, denn sie setzt sich zusammen aus einer Scheibe Corned Beef, 4 Eßlöffeln Dosenspinat, 2 Löffeln geschälte Tomaten, einem Stück gepreßtem Trockenwirsing (ich bekomme ein 1,5 cm dickes Dreieck mit ca. 5 cm Kantenlänge), einem ebensolchen Stück Trockenrotkohl, einem Preßstück Trockenzwiebeln, 10 Löffeln Baked Beans in Tomatensoße, 3 Löffeln getrocknete Rote Bete (die an Zuckerrübenschnitzel erinnern, wie wir sie früher von der Zuckerfabrik für die Schweine holten), 6 Löffeln Milchpulver, 4 Löffeln Zucker, 4 Löffeln Eipulver, 2 Löffeln Mehl, 2 Löffeln Erbsmehl, 2 Löffeln Bratlingspulver, 2 Löffeln Kaffeemehl, 2 Löffeln Puddingpulver "Vanille", 45 Rosinen und Fadennudeln, die zunächst nach ihrer Länge sortiert und dann verteilt werden, so daß jeder 6 lange, 10 mittlere und 6 kurze bekommt.

 

Die ganze Verteilung vollzieht sich unter dem Gedröhn der Bomber und inmitten der von ihnen aufgewirbelten Staubwolken. Darum beschließen Martin und ich, heute nur eine Gemüsesuppe und morgen, am Himmelfahrtstag, einen zünftigen Pudding zu kochen. Bei der starken Luftbewegung ist es kaum möglich, das Feuer in unserem Öfchen unter Kontrolle zu halten, und so sind wir froh, als endlich die letzte Maschine über uns hinweg gedonnert ist und endlich Ruhe eintritt. Noch einmal zu kochen, dazu haben wir einfach keine Lust mehr.

 

Auch heute abend haben wir noch stundenlang Ohrenklingen oder Ohrensausen, und hoffen inständig, daß nun alle Flugzeuge aus Italien abgezogen worden sind und wir nicht noch einmal den Krach und die Unruhe ertragen müssen. Das ist auch tatsächlich der Fall, denn Donnerstag, der 10.Mai, wird ein schöner, ruhiger Frühlingstag mit viel Sonne und einigen Quellwolken, also richtigem "Vatertagswetter". Erst jetzt bemerken wir, daß in den verschiedenen Käfigen Lücken entstanden sind. Bei der Unruhe und dem Lärm haben wir überhaupt nicht bemerkt, daß gestern Abend größere Gruppen von Gefangenen das Lager verlassen haben.

 

Doch nun wollen wir unseren geplanten Himmelfahrtspudding herstellen. Dazu haben wir unser Puddingpulver, das Milch- und Eipulver, den Zucker, das Mehl, die Nudeln und Rosinen aus der gestrigen Verpflegung aufbewahrt und zusammengetan, weil der Pudding für uns beide gedacht ist. Alfred war für dieses Gemeinschaftsprojekt nicht zu begeistern, hat aber zusammen mit mir für Brennmaterial gesorgt, so daß Martin sich ganz der Zubereitung des Puddings widmen kann.

 

Dazu brauchen wir zunächst eine größere Dose, in die auch zwei Portionen hineinpassen, und entsprechend auch einen größeren Ofen. Nicht weit von unserem Loch entfernt lebt eine Gruppe aus unserer früheren Geschützstaffel, die sich aus einem Kaffeekanister, der so hoch wie ein Marmeladeneimer, jedoch nicht rund, sondern viereckig ist, einen wesentlich größeren Ofen gebaut hat als wir ihn besitzen. Sie leihen uns auch eine größere Dose, die genau in den runden Deckelausschnitt paßt. Da um diese Zeit niemand kocht, sind die Kameraden sofort bereit, uns beides auszuleihen.

 

Dafür bekommt Martin aber mehr Zuschauer als ihm lieb ist. Sie machen ihn mit ihren Kommentaren nur nervös, obwohl er zunächst die Ruhe selbst zu sein schien. Nun rührt er unter den kritischen Blicken der Neugierigen das Milchpulver mit dem Eipulver, dem Puddingpulver, Zucker und Mehl unter Zufügung von etwas Wasser zu einem dünnflüssigen Brei zusammen, dem er dann weiter Wasser hinzufügt, um - wie er sagt - etwas "mehr Masse" zu bekommen. Dann fügt er noch die zerkleinerten Nudeln und die Rosinen hinzu und erhält eine dünnflüssige weißgelbe Masse, die nicht nur gut aussieht, sondern auch sehr appetitlich riecht.

 

Beim Entzünden des Feuers gibt es dann die ersten Probleme, denn das von Alfred und mir gesammelte Brennmaterial hat teilweise auf feuchter Erde gelegen und ist trotz der starken Sonneneinstrahlung noch nicht völlig trocken. So wird eine ganze Menge Papier verbrannt, bevor außer dickem Qualm auch die ersten Flammen zu sehen sind. Martin muß also kräftig blasen, um das Feuer zu entfachen und in Gang zu halten.

 

Doch dann hat er es geschafft: das Feuer brennt einwandfrei, und er rührt nun genüßlich die Masse in dem Topfe um. Doch so schwer es war, das Feuer in Gang zu bringen, so verzwickt ist es, die Flammen unter Kontrolle zu halten, denn schon bald beginnt der Ofen unter der Hitze zu ächzen. Und auch im Topfe tut sich etwas: die Masse kommt in Bewegung und -  ehe Martin reagieren kann - wallt sie auf, steigt bis zum Rand der Dose, quillt teilweise über ihn hinaus und landet zischend im Feuer. Dadurch werden die Flammen gedämpft, und Martin ergreift die Gelegenheit beim Schopfe. Um sich nicht die Hände zu verbrennen, klemmt er die Dose zwischen seine Unterarme und hebt sie mit einem eleganten Schwung aus dem Ofen. Die brodelnde Masse sinkt nun sofort in sich zusammen, und er kann die Dose vorsichtig auf dem Walle neben dem Ofen abstellen.

 

Alfred Elsensohn, der die ganze Prozedur beobachtet hat, kaut weiter einige Nudelstücke und Rosinen, die er von gestern aufgehoben hat, verzieht jedoch keine Miene, obwohl die Angelegenheit einer gewissen Komik nicht entbehrt, vor allem, wenn man die großen Sprüche berücksichtigt, die Martin über seine Kochkünste von sich gegeben hat. Allerdings kann er sich die Bemerkung nicht verkneifen, daß die Nudeln bei dem kurzen Erhitzen sicherlich "al dente" seien.

 

Wir beiden aber lassen unsere Puddingsuppe abkühlen und löffeln sie trotz allem mit Genuß aus unseren Dosen, in die wir sie gleichmäßig verteilt haben, ohne dabei allerdings die Rosinen abzuzählen. Die Nudeln sind zwar noch etwas hart, aber sonst schmeckt uns der verunglückte Pudding ausgezeichnet. Erst jetzt beim Essen tauchen gewisse Zweifel auf, ob mit dem wenigen Puddingpulver, dem vielen Wasser und den anderen Zutaten überhaupt ein steifer Pudding möglich gewesen wäre. Immerhin haben wir nun die Ehre, den Ofen und die geliehene Dose zu reinigen, bevor die übergeschwappte Suppe darauf festbrennt. Mit dieser Aktion haben wir allerdings unser sämtliches Brennmaterial verbraucht, so daß wir heute darauf verzichten müssen, die üblichen Suppen zuzubereiten und die Verpflegung einmal à la Elsensohn - das heißt: roh - verzehren.

 

Auch am Freitag (11.05.) scheint den ganzen Tag die Sonne, ja sie brennt geradezu vom Himmel. Manche, die mit dem Entblößen ihres Körpers zu voreilig waren, haben sich einen Sonnenbrand zugezogen, den sie nun mit Mehlbrei zu heilen suchen. Andere haben sich von ihren Gruppen gelöst und wandern allein im Lager umher, um der körperlichen Nähe zu entfliehen, die mit der Zeit schwer erträglich wurde. Martin und ich haben unsere Schuhe seit Montag noch nicht wieder angezogen, uns bei Tage barfuß bewegt und für die Nacht unsere Socken angezogen. Trotzdem können wir noch nicht wieder richtig und schmerzfrei laufen. Die Hyperästhesie ist kaum zurückgegangen, so daß wir den Füßen hin und wieder ein kühlendes Schlammbad gönnen. Die Schuhe sind inzwischen völlig trocken geworden, und durch gelegentliches Walken haben wir verhindert, daß das Leder hart geworden ist. Dennoch haben wir noch nicht versucht, sie wieder anzuziehen. Dazu ist die Drucküberempfindlichkeit der Zehen einfach noch zu groß.

 

Auf der Lagerstraße ist in dieser Woche ständig etwas los. Laufend werden irgendwelche Transporte zusammengestellt und verlassen dann das Lager. Auch der Tod lichtet weiter unsere Reihen. Täglich werden leblose Gestalten aus den Cages geschleppt, auf der Straße aufgebahrt und dann abtransportiert. So sehr wir uns auf das schöne Wetter gefreut haben, nun geht es uns allmählich auf den Geist. Zusammen mit Samstag (12.05.) sind es nun schon sechs Tage, an denen die Sonne von kaum bewölktem Himmel gnadenlos auf uns herunter- brennt. Sicher können wir uns jetzt täglich waschen und rasieren und brauchen keine Angst vor nächtlichen Regengüssen zu haben, doch die Fußkranken hätten lieber trübes Wetter, denn die Pfützen, in denen sie ihre Füße kühlen können, trocknen mehr und mehr aus. So sitzen wir den größten Teil des Tages herum und suchen uns mit Pappstücken oder über Kopf und Nacken gelegten Hemden vor Sonnenbrand zu schützen. Nach einer Woche haben wir auch keine Lust mehr, auf Händen und Knien wie die Affen herumzuhoppeln, zumal die Zahl der Betroffenen immer kleiner wird und viele schon wieder normal gehen können. Da fällt es den anderen um so schwerer, nicht mithalten zu können.

 

Statt der früheren Armeescheinwerfer hat der Ami in den letzten Tagen grelle Halogenlampen an den Käfigeinzäunungen aufgestellt, so daß man sich nur noch mit vorgehaltener Hand vor dem gleißenden Lichte schützen kann, wenn man einmal in ihre Richtung gehen muß.

 

Doch obwohl dies jeder weiß, hört man des Nachts immer wieder Rufe von Leuten, die ihre Gruppe nicht wiederfinden können, weil sie auf dem Wege zum Latrinengraben in das grelle Licht geblickt und danach geblendet die Orientierung verloren haben, was bei dem Gewirr von ähnlich aussehenden Löchern auch gar kein Wunder ist. Wenn sie dann jemand aus ihrer Notlage befreit, ist es gut. Aber oft läßt man sie einfach rufen, bis sie in Tränen ausbrechen und anfangen zu heulen und zu jammern, was in der ansonsten ruhigen Nacht geradezu schaurig klingt.

 

Wenn jemand auf den schmalen und oft glitschigen Trampelpfaden zwischen den Löchern einmal ausrutscht und in ein fremdes Loch fällt oder jemandem aus Versehen auf den Kopf tritt oder auch nur die Abdeckung beschädigt, muß er damit rechnen, von der aufgebrachten Besatzung brutal verhauen zu werden. Denn alle sind bis zum Äußersten gereizt, und die geringste Störung löst sofort starke Aggressionen aus; Erziehung und Kultur sind bald vergessen, wenn es um das nackte Überleben geht. Und das genau ist unsere Lage. So kommt es vor, daß - vor allem jüngere - Mitgefangene mit dem Rücken zu den Scheinwerfern am Rande des Käfigs stehen und flehentlich nach ihren Kameraden rufen, bis sie entweder abgeholt werden oder sich mit Tagesanbruch wieder selbst orientieren können.

 

Inzwischen ist der Zapfhahn an unserer Zisterne ausgewechselt worden. Dafür wird aber das Wasser immer knapper. Die Tankwagen kommen wegen der großen Zahl der Käfige, die sie beliefern müssen, einfach nicht mehr zurecht, um an alle Stellen regelmäßig Wasser zu bringen. So müssen wir nun schon etwa achtzehn Stunden anstehen, um etwas von dem wertvollen Naß mitzubekommen. Tag und Nacht zieht sich neuerdings eine kaum noch überschaubare Schlange von Leuten durch das Lager, die nach Wasser anstehen. Einer allein ist überhaupt nicht  in der Lage, die ganze Zeit durchzuhalten, bis er endlich an den Zapfhahn kommt. Für uns zu dritt ist es schon mühsam genug, einander beim Anstehen abzulösen.

 

Heute bin ich derjenige, der den letzten Abschnitt bestreiten und dann das Wasser in Empfang nehmen muß. Barfuß und mit zwei gefüllten Dosen verlasse ich danach die Zisterne und versuche, über die schmalen Trampelpfade im Zickzackkurs auf unser Loch zuzusteuern, wo mir Martin, der wegen seiner Körperlänge nicht zu übersehen ist, von ferne zuwinkt, damit ich mich nicht verlaufe. So balanciere ich also über die schmalen Wege und habe - weil ich zu Martin hinüberblicke - auch gleich einen scharfen Knick übersehen und auf eine Abdeckung aus lehmverschmiertem Geflecht getreten. Im ersten Schrecken habe ich überhaupt nicht wahrgenommen, ob die Abdeckung weich oder hart war oder ob ich jemandem, der darunter saß, auf den Kopf oder die Schulter getreten habe. Bevor jedoch jemand aus dem Loche auftauchen kann, habe ich bereits mehrere Haken geschlagen und die unmittelbare Gefahrenzone verlassen.

 

Deshalb höre ich nur, wie hinter mir jemand aus der Reihe, die mir im Gänsemarsch folgt, von einem wütenden Insassen des Loches ergriffen wird. Um seine Wut abzureagieren, verbläut dieser den völlig Ahnungslosen, der vor Schrecken noch seine Wasserbehälter fallen läßt, so daß er außer der unschuldig bezogenen Tracht Prügel sich auch noch einmal ans Ende der Schlange anstellen muß. Ich aber haste weiter zwischen den Löchern hindurch, und mir bleibt dabei vor Herzklopfen beinahe die Luft weg; deshalb bin ich froh und erleichtert zugleich, als ich unser Loch erreicht habe und Martin mir die Dosen abnimmt.

 

Auch am Sonntag (13.05.) dauert das schöne Wetter und damit die Hitzeperiode an. Um halb acht Uhr morgens findet an einer freien Stelle unseres Käfigs ein evangelischer Gottesdienst statt, der uns auf das Pfingstfest vorbereiten soll. Wir können von unserem Loche aus das Singen, Beten und die Predigt hören, trauen uns aber nicht, barfuß hinzugehen, denn nach wiederholten schmerzhaften Versuchen haben wir es vorerst aufgegeben, die Schuhe anzuziehen.

 

Dieser Gottesdienst erinnert uns daran, daß, während wir hier im Dreck liegen und uns notgedrungen mit uns selbst beschäftigen, draußen in der Welt das Leben weitergeht Wir fühlen uns genauso verlassen und ausgegrenzt wie die Juden in ihrer babylonischen Gefangenschaft, über die der Pfarrer in seiner Predigt spricht.

 

Am Montagmorgen (14.05.) erscheint in aller Frühe der Lautsprecherwagen und fährt auf der Lagerstraße zwischen den Käfigen hindurch. Wieder werden wir aufgefordert, mit Gepäck am Tore anzutreten. Nun müssen Martin und ich unsere Schuhe anziehen, ob wir wollen oder nicht. Doch es geht besser als erwartet. Vermutlich trägt auch die innere Erregung über das, was nun mit uns geschehen wird, dazu bei, die Schmerzen zu vergessen. Wieder müssen wir über die Lagerstraße zu dem freien Feld marschieren, wo man uns schon einmal zum Narren gehalten hat. Der einzige Unterschied ist, daß wir damals im Regen standen und nun die Sonne unbarmherzig auf uns niederbrennt.

 

Vor Ort vollzieht sich die gewohnte Zeremonie. Wieder werden wir von Amerikanern und Polen gezählt und zu Tausendschaften zusammengefaßt. Und wieder rechnen wir mit einem faulen Trick, um uns zu demütigen. Doch dieses Mal verläuft die Zusammenkunft anders. Wir werden nämlich zu je drei Tausendschaften zusammengefaßt und müssen ganz neue Käfige beziehen. Diese sind in unmittelbarer Nähe des Stadtgebiets von Remagen zu einem Riesenlager zusammengestellt worden, doch nicht so unübersichtlich wie dort, wo wir bisher gehaust haben, sondern fein säuberlich nach "Areas" und "Cages" geordnet, die zur Unterscheidung mit Zahlen und Buchstaben gekennzeichnet sind. Damit kommt eine gewisse Ordnung in die unübersehbare amorphe Masse der Gefangenen. Glücklicherweise finden sich auch hier wieder große Teile unserer früheren Einheiten zusammen, bilden nun im "Cage 39" von "Area K" die zweite Tausendschaft, und Hauptwachtmeister Basedow wird auch hier unser Tausendschaftsführer. Martin und ich kommen zur 10. Gruppe der 1. Hundertschaft in dieser Tausendschaft. Alfred Elsensohn landet mit Leuten von der Geschützstaffel in einer anderen Gruppe, die hier nicht mehr 25 Mann stark ist, sondern sich nur noch aus 10 Gefangenen zusammensetzt.

 

In diesem neuen Käfig gibt es auf den ersten Blick erkennbare deutliche Fortschritte zu dem unübersichtlichen "Gräberfeld", aus dem wir kommen. Hier gibt es Latrinenzelte und Wasserleitungen. Dafür ist es aber verboten, Löcher zu graben. Mit drei Tausendschaften ist unser Kälig praktisch nur halb belegt. Die rechte Hälfte ist von Kastanien und anderen Bäumen bestanden, die sich um ein zerschossenes Haus gruppieren, die linke Hälfte ist freies Feld. Unter den Bäumen gibt es Gras und Platz genug für alle zum Lagern, so daß die freie Fläche überhaupt nicht in Anspruch genommen werden muß. Statt einem Sani-Zelt gibt es in der Hausruine eine Sanitätsstation, die im Landserjargon "Revier" genannt wird.

 

Das schöne Wetter hält die ganze Woche an, so daß wir unter den Bäumen gut und trocken übernachten können. Martin und ich sichern uns einen Platz in der Nähe der Hausruine, wo wir zusätzlich noch gegen Wind geschützt sind. Selbstverständlich durchstöbern wir die halb eingefallenen und daher nicht genutzten Räume der Ruine, um Brennmaterial für den PW- Sparofen zu sammeln, den Martin natürlich hierher mitgebracht hat. Denn - wie vermutet - gibt es auch hier die Verpflegung nur im Rohzustand.

 

Am Mittwochnachmittag (16.05.) erlebe ich dann eine besondere Überraschung. Bei einem Rundgang, den ich durch das Lager unternehme, um meine Füße wieder langsam an das Laufen zu gewöhnen, treffe ich unverhofft auf eine dürre Gestalt in einer verdreckten Uniform, an der mir vor allem die an den Struwwelpeter erinnernde wilde Zottelmähne auffällt. Dann blickt die auch noch mit einem roten Stoppelbart gezierte Gestalt zu mir auf und ich erkenne meinen früheren Mitschüler Josef Wiedemeier aus Warburg. Er ist zwar ein Jahr jünger als ich, aber trotzdem bereits im Infanterieeinsatz gewesen. Viel erzählen mögen wir beide uns im Augenblick nicht. Dazu sind wir zu sehr erschöpft. Wir hoffen aber, daß wir später einmal zu Hause unsere Erlebnisse austauschen können. Jetzt bleibt jeder im Kreise seiner Kameraden. Gut zwei Jahre später treffen wir uns dann in Warburg, wo Josef wieder seinen alten Beruf als Sparkassenangestellter ausübt. Wenn wir dachten, mit dieser Verlegung sei etwas in Bewegung gekommen, so werden wir zunächst enttäuscht, denn während der ganzen Woche kümmert man sich nicht weiter um uns. Die Verpflegung wird pünktlich angeliefert, aber kein Lautsprecherwagen erscheint, alles scheint in Apathie erstarrt zu sein. Die Hitze macht uns träge und hält uns davon ab, uns zu unterhalten oder zu bewegen. Wir sitzen nur herum und brüten dumpf vor uns hin.

 

Freitag (18.05.) ist nun schon der achtzehnte Sonnentag in Folge und alle suchen nur noch den Schatten. Doch ausgerechnet bei der Verpflegungsausgabe ziehen dichte Wolken auf, und dann bricht ein Gewitter los, wie wir es dieses Jahr noch nicht erlebt haben. Zuerst kommt starker Wind auf, der Staubwolken vor sich her treibt, dann folgt ein von Blitz und Donner begleiteter Platzregen, der so ergiebig ist, daß die Erde die Wassermassen gar nicht aufnehmen kann und überall Rinnsale oder sogar Bäche entstehen. Zuerst bieten die Bäume noch einigen Schutz, dann regnet es aber durch das immer noch zarte frische Laub. Jetzt sind große Steine oder liegende Baumstämme gefragt, auf die man sich setzen kann. Der Boden ist nämlich so naß geworden, daß man unmöglich auf der Erde schlafen kann, zumal jederzeit ein weiteres Gewitter möglich ist..

 

Martin und ich haben für die Nacht einen halben Baumstamm ergattert, der in der Nähe der Ruine liegt, und versuchen nun, nebeneinander auf ihm sitzend, das Kinn in die Hände und die Ellenbogen auf die Knie gestützt, zu schlafen. Mit drei weiteren Gefangenen zusammen sitzen wir wie die Hühner auf einer Stange und schaffen es tatsächlich, hin und wieder ein wenig einzunicken.

 

Am Samstagmorgen (19.05.) brennt die Sonne dann wieder vom wolkenlosen Himmel und läßt den Boden schnell wieder trocken werden. Am Nachmittag werden wir für vier Stunden zum Waschen an den Rhein geführt, der hier zwischen Remagen und Kripp einen großen Bogen macht. Viele steigen bis zu den Knien in das erfrischende Wasser, um den strapazierten Füßen ein wenig Erholung zu verschaffen. Wer einen passenden Stein am Ufer findet, setzt sich darauf und läßt seine Füße von der Flut umspülen. Längeres Stehen hält kaum jemand aus, und deshalb liegen mehr Leute an der Uferböschung als überhaupt mit dem Wasser in Berührung kommen. Jedenfalls strengt uns der Ausflug zum Rhein dermaßen an, daß wir bei der Rückkehr ins Lager vor Mattigkeit kaum noch auf den Beinen stehen können. So kommt es, daß sich heute bei der Lebensmittelverteilung bedeutend weniger Zuschauer und Kontrolleure einfinden als gewöhnlich. Die meisten ziehen es vor, irgendwo im Schatten sitzen oder liegen zu bleiben.

 

Mit dem Einbruch der Dunkelheit zieht ein neues Gewitter auf. Dieses Mal flüchte ich mit Martin in die Ruine, wo wir im Vorraum zum Revier einen Platz finden, an dem es zwar etwas tropft, aber nicht durchregnet. Meine Füße haben sich inzwischen erholt und schmerzen nur noch geringfügig beim Gehen. Auch Martin hat das Schlimmste überstanden.

 

Was die Ernährung angeht, so haben wir unsere alte Vorsätze aufgegeben und uns darauf geeinigt, daß hier im neuen Lager jeweils nur einer für beide kocht. Und zwar kann er dabei auch über die Verpflegung des anderen verfügen, soweit sie gekocht werden muß. Jeden zweiten Tag, wenn der andere kocht, muß er dann für Brennmaterial sorgen. So hat jeder nur noch die halbe Arbeit von früher zu verrichten , und das neue System funktioniert einwandfrei, ohne daß wir ein einziges Mal darüber in einen Streit geraten.

 

Zu Pfingsten (20.05.) ist die Verpflegung für Remagener Verhältnisse ausgesprochen reichhaltig und gut. Das kommt mir beim Kochen zustatten, und Martin versäumt es nicht, mich ausgiebig dafür zu loben, daß ich daraus zwei Gänge zubereite, die ausgezeichnet schmecken und auch optimal sättigen. In der Nacht kommt wieder ein heftiges Gewitter auf, so daß wir noch einmal in die Ruine flüchten, wo wir allerdings keinen Liegeplatz mehr bekommen, sondern auf der Treppe zum Revier sitzend die Nacht verbringen müssen.

 

Pfingstmontag (21.05.) wird dann ein trüber Regentag. Ausgerechnet heute scheint man sich von der Lagerleitung aus an uns zu erinnern, denn an die Hundertschaftsführer werden Listen verteilt, in denen sie alle Leute ihrer Hundertschaft mit Namen, Beruf und gewünschtem Entlassungsort erfassen müssen. Dies ist die erste Maßnahme, bei der wir aus der anonymen Masse heraustreten und als Einzelpersonen wahrgenommen werden. Natürlich kommt sofort Entlassungshoffnung auf! Auch Gespräche werden wieder aufgenommen, ja es wird sogar heftig darüber diskutiert, nach welchem Schlüssel die Entlassungen wohl vorgenommen werden. Die Lethargie der letzten Tage scheint wie weggeblasen.

 

Es regnet den ganzen Tag weiter, so daß wir kein trockenes Brennmaterial zum Kochen haben. Um dennoch zu einer warmen Mahlzeit zu kommen, schlägt Martin, der mit dem Kochen an der Reihe ist, vor, heute einmal "schmarotzen" zu gehen. Wir füllen also die eßfertigen Lebensmittel wie Corned Beef, Tomaten, Spinat und Brotstücke mit etwas Wasser in den Kochgeschirrdeckel und halten ihn dann bei anderen, die gerade kochen, an die neben ihren Dosen hochschlagenden Flammen. Es gibt eine ganze Reihe Gefangene, die ständig auf diese Weise zu warmem Essen zu kommen versuchen. Da sie als Gegenleistung Brennmaterial beisteuern müssen, sind diese "Nassauer" bei den Kochern sogar ganz gerne gesehen. Die trockenen Lebensmittel sammeln wir - wie viele Mitgefangene auch - in selbst angefertigten kleinen Beuteln und heben sie auf für bessere Tage, wenn die Sonne scheint und wir wieder kochen können.

 

Die kommende Nacht verbringen wir wieder im Keller des Reviers, wo sich inzwischen aber so viele Landser einfinden, daß der einzelne kaum noch vernünftig sitzen, geschweige denn liegen kann. Aber hier ist es trocken und wegen der vielen Menschen auch warm. Wenn man müde genug ist, bringt man es auch fertig, in dieser gedrängten Enge zu schlafen. Nur muß man dabei in Kauf nehmen, daß am Morgen die Glieder schmerzen und man einige Zeit darauf verwenden muß, die Gelenke wieder beweglich zu machen.

 

Am Dienstagmorgen (22.05.) fährt zum ersten Mal der Lautsprecherwagen durchs neue Lager. Es wird ausgerufen, daß sich alle früheren Angehörigen der Polizei, der Gestapo, der NSDAP, SA, SS und anderer NS-Verbände mit Ausnahme der Hitlerjugend zwecks Umquartierung in ein anders "Cage" am Lagertor einfinden sollen. Da die meisten von uns nicht alt genug waren, um Mitglied einer solchen Organisation gewesen zu sein, achten wir nicht weiter darauf, wer sich auf diesen Aufruf hin meldet und wieviele Personen das Lager verlassen.

 

Und weil es ausgerechnet während der Verpflegungsausgabe wieder anfängt zu regnen, ist es uns wichtiger, in der Ruine ein trockenes Plätzchen zu finden, statt uns um die anderen zu kümmern. Offenbar sind wir nicht allein auf diese Idee gekommen, denn im Keller herrscht schon nach kurzer Zeit wieder ein dichtes Gedränge. Morgens stelle ich dann verärgert fest, daß ich auf einem Stück Stacheldraht gelegen und mir eine 8 zu 6 cm große "Sieben" in den Mantel gerissen habe. Zum Glück habe ich aber mein Nähzeug noch, so daß ich den Schaden schnell wieder beheben kann. Der Mantel, auf den ich so stolz war, ist nun zwar verunziert, aber der Fehler ist auf der Rückenseite und die Hauptsache ist schließlich, daß der Stoff nicht weiter einreißt.

 

Ich kann diese Näharbeit auch gleich am frühen Morgen ausführen, denn der heutige Mittwoch (23.05.) beginnt wolkig und trocken, so daß wir nach dem Aufstehen gleich ins Freie gehen können. Erst gegen Mittag gibt es wieder etwas Regen. Im Laufe des Vormittags verbreitet sich das Gerücht von ersten Entlassungen, obwohl natürlich niemand etwas Genaues darüber weiß. Außerdem haben wir es uns bereits abgewöhnt, alles zu glauben, was so unter der Hand erzählt wird, denn allzu oft ist der Wunsch der Vater der Gedanken, die zu solchen "Parolen" führen. Im Augenblick ist damit zu rechnen, daß das Wetter nicht beständig bleibt, und wir uns rechtzeitig nach einem trockenen Schlafplatz umsehen müssen. Denn auch bei dem geringen Regen ist der Boden so naß geworden, daß wir draußen nicht übernachten können. Also suchen wir mit vielen anderen wieder den Keller in der Ruine auf, in dem es - wie uns scheint - heute noch voller ist als während der letzten Nacht.

 

Als der neue Tag (24.05.) anbricht, stellt Martin mit Erschrecken fest, daß ihm in dem Gedränge ein Beutel mit sechs Portionen Milchpulver gestohlen worden ist, aus dem er eine zünftige Milchsuppe bereiten wollte, sobald das Wetter wieder Kochen im Freien erlaubte. Nun ist er außer sich vor Wut und Enttäuschung. Natürlich kann ich seine Gefühle gut verstehen, denn mir würde es in einem solchen Falle genauso ergehen. In der ersten Erregung sind wir uns schnell einig, daß wir dafür sorgen müssen, daß so etwas nicht noch einmal geschieht. Und damit endet unsere Vorratswirtschaft, denn wir essen alles auf, was wir für bessere Kochgelegenheiten gesammelt und aufbewahrt haben, und zwar in dem trockenen Rohzustand, in dem es sich befindet.

 

Unter den gierigen Blicken unserer Mitgefangenen knabbern wir Nudeln, Trockenkartoffeln, sowie getrocknete Möhren und Rote Bete. Lediglich das Eipulver rühren wir mit etwas Zucker und Wasser zusammen und trinken es aus. Sicher ist unser Magen nicht darauf ein- gestellt, soviel "Trockenfutter" zu verarbeiten, doch er bereitet uns kein größeres Unbehagen, und eine geringe Unpäßlichkeit nehmen wir gerne in Kauf angesichts der Tatsache, daß uns nun keine Lebensmittel mehr gestohlen werden können.

 

Bis zur Verpflegungsausgabe sind alle Unpäßlichkeiten längst vergessen, zumal es das Wetter zuläßt, wieder zu kochen. Die Überraschung des Tages ist eine Lautsprecherdurchsage am späten Nachmittag, in der die Bewohner der näheren Umgebung von Remagen und Bonn und aus dem Siegkreis aufgefordert werden, sich am Lagertor zu versammeln. Dabei kommen 37 Personen zusammen, die das Lager verlassen können und mit einem LKW abtransportiert werden.

 

Zur Übernachtung in den Keller zu kommen ist heute gar nicht so einfach. Denn wegen des großen Andrangs gibt der Oberarzt, der das Revier leitet, ab heute nur an "sehr Bedürftige" Übernachtungszettel aus. Da Martin und ich Mäntel haben, kommen wir für eine Kellerübernachtung nicht in Betracht. Doch da hilft uns unser früherer Spieß in seiner jetzigen Eigenschaft als Tausendschaftsführer aus der Klemme. Er stellt uns eine Bescheinigung darüber aus, daß wir weder eine Decke noch eine Zeltbahn besitzen und "akut erkältungsgefährdet" sind. Nach einigem Hin und Her werden wir aufgrund dieser Bescheinigung letzten Endes doch in den Keller gelassen. Wegen der kontrollierten Zahl der Übernachtenden ist jetzt genug Platz für jeden vorhanden, um liegend schlafen zu können. Wir müssen lediglich die Beine etwas anziehen, doch das ist nichts im Vergleich zu den Verrenkungen, die wir während der vergangenen Nächte auf uns nehmen mußten.

 

Also untersuchen wir das alte Gemäuer etwas genauer und entdecken hinter einem Fensterloch einen Konzertflügel, der in der Ecke steht. Wahrscheinlich war dieser Raum einmal ein Musikzimmer. Sofort steigen wir ein und prüfen die Standfestigkeit des Instrumentes. Dabei stellen wir fest, daß der Flügel im Schutt so fest verankert ist als ob er einbetoniert wäre. Er steht absolut fest und kann in keiner Richtung bewegt werden. Kurz entschlossen entfernen wir die Dreck- und Trümmerschicht und bereiten auf dem polierten Holz unser Nachtlager vor. Bis zum Abend halten wir uns in der Nähe der Fensteröffnung auf, damit uns niemand in die Quere kommt, dann steigen wir ein und verbringen auf dem Instrument eine ruhige und erholsame Nacht.

 

Sonntag, der 27.Mai, bringt einige Veränderungen. Morgens um halb acht Uhr müssen alle drei Tausendschaften auf der Freifläche unseres Käfigs antreten. Dabei werden 77 Namen von Leuten verlesen, die sofort ihre Sachen packen und sich zum Lagertor begeben können. Dann werden wir gezählt und durch Rheinländer und Westfalen aus anderen Cages wieder auf die volle Sollstärke gebracht. Diese Verstärkungen werden aus anderen Käfigen abgezogen und treffen noch während des Zählappells bei uns ein. Zur Organisation wird uns mitgeteilt, daß etliche Areas bereits aufgelöst worden sind und unser "Area K" in "Area D" umbenannt worden ist. Die Lagerbezeichnung "Cage 39" bleibt jedoch erhalten.

 

Auch am Montagmorgen (28.05.) müssen wir wieder um 7.30 Uhr antreten. Heute werden die "Bewohner der mittleren Rheinprovinz" aufgerufen, die in der Landwirtschaft oder im Verkehrswesen (Post, Eisenbahn, Straßenbahn, Linienbusbetrieb) tätig waren. Es melden sich 19 Personen, die diese Voraussetzungen erfüllen; aus unserer Tausendschaft sind 9 Mann dabei. Diese 19 Leute können sofort ihre Sachen packen und das Lager verlassen.

 

Der ganze Tag bleibt sonnig, erst gegen Abend kommen Wolken auf. Zu unserer Überraschung wird um 19 Uhr an der Ruine ein katholischer Gottesdienst abgehalten. Die Beteiligung ist groß, denn fast sämtliche Lagerinsassen - ob katholisch oder nicht - nehmen daran teil. Wir sind froh und dankbar für jede Abwechslung. Nach der Messe ertönt noch einmal der Lautsprecher. Jetzt werden die Bewohner der Kreise Olpe und Siegen, sowie der Provinz Hessen-Nassau aufgefordert, sich morgen zur Entlassung bereit zu halten.

 

Die Übernachtung im Freien bereitet uns heute keine Schwierigkeiten, weil bis gegen Mittag die Sonne geschienen hat und es den ganzen Tag trocken geblieben ist. Auch in der Nacht regnet es nicht. Gegen Morgen kommt ein leichter Wind auf, der die lichten Wolken vertreibt, so daß die Sonne wieder ungetrübt scheinen kann.

 

Am Dienstag (29.05.) müssen wir bereits um 6.30 Uhr zur Zählung antreten. Die gestern Aufgerufenen - insgesamt sind es 44 Personen - können zum Lagertor gehen, wo bereits einige teilweise besetzte Lkws stehen. Wie es aussieht, werden immer die gleichen Personengruppen aus den verschiedenen Cages zusammengestellt und dann gemeinsam abtransportiert.

 

Am Nachmittag gehen die Durchsagen im Anschluß an die Verpflegungsausgabe weiter. Nun werden die Bewohner der Provinzen Ostpreußen, Westpreußen, Pommern, Wartheland und Schlesien aufgerufen. Damit verlieren wir auch unseren Tausendschaftsführer, Hauptwachtmeister Basedow, der aus Pommern stammt.

 

Gegen 18 Uhr kommt ein Feldgeistlicher ins Lager und bietet drei Stunden Beichtgelegenheit an. Um 21 Uhr hält er dann eine Maiandacht, die wieder starken Zuspruch findet.

 

Auch am Mittwochmorgen (30.05.) heißt es um 6.30 Uhr wieder: "Antreten zur Zählung!" Zuerst werden die gestern aufgerufenen Ostdeutschen aufgefordert, mit Gepäck zum Lagertor zu gehen, und dadurch können wieder 158 Mitgefangene aus unserem Käfig das Lager verlassen. Kaum sind wir abgefahren, da werden alle "Rechtsrheinischen" aufgerufen, die nicht zu den Berufsgruppen A (Land- und Forstwirtschaft), B (Bergbau) oder N (Verkehr) gehören. Damit bin auch ich angesprochen und werde so unruhig, daß ich kaum einschlafen kann, obwohl wir in der Nähe der Ruine einen guten Schlafplatz gefunden haben.

 

In der Erwartung, daß ich nun auch das Lager verlassen kann, werde ich am Donnerstag (31.05.) schon sehr früh wach. Wieder müssen wir um halb sieben Uhr antreten, doch die gestern aufgerufene Gruppe wird überhaupt nicht erwähnt. Vielmehr teilt man uns mit, daß in unserem Käfig ausschließlich Unteroffiziere untergebracht werden sollen. Alle Mannschaften müssen um 12 Uhr das Lager verlassen und nach "Cage 37" umziehen. Andererseits rücken aus allen möglichen Käfigen Unteroffiziere an, um die drei Tausendschaften im "Cage 39" wieder aufzufüllen.

 

Im neuen Käfig gibt es nur wenige Bäume und außer zwei Zelten (Latrine und Revier) kein Bauwerk, das Schutz gewähren könnte. Auch organisatorisch werden wir neu geordnet, wobei Martin und ich zur 8. Hundertschaft in der l. Tausendschaft kommen. Um 16 Uhr ist dann ein Appell, bei dem die Rechtsrheinischen, die nicht zu den Berufsgruppen A, B und N gehören, zahlenmäßig erfaßt werden. Man hat uns also doch nicht vergessen, und wir fiebern unserer - wie wir meinen - baldigen Entlassung entgegen. Die Verpflegung fällt heute so dürftig aus, daß es sich nicht lohnt, etwas zu kochen. Wir essen alles in dem Zustande auf, wie wir es bekommen. Da der Boden trocken ist, schlafen wir am Fuße eines Baumes.

 

Am Freitagmorgen (01.06.) müssen wir Rechtsrheinischen, die gestern gezählt worden sind, in aller Frühe mit Gepäck am Lagertor antreten. Für mich bedeutet das, von Martin Schmidt Abschied zu nehmen, der als Linksrheinischer im Lager bleiben muß. So tue ich mich mit Karl-Heinz Baumgart zusammen, der als letzter Angehöriger unserer früheren Nachrichtenstaffel noch übrig geblieben ist.

 

Es ist zwar bereits heller Tag, aber kaum sechs Uhr, als wir aus dem Cage marschieren. Für uns stehen jedoch keine Lkws bereit, sondern wir werden an ein Tor geführt, neben dem ein Schild mit der Aufschrift "AREA 1 A" angebracht ist. Gleich hinter dem Tore stehen vier Tische, an denen jeweils ein Amerikaner und ein deutscher Dolmetscher sitzen. Wir müssen nun vier Reihen bilden und nacheinander an einem der Tische vorbei gehen. Hier müssen wir Alter und Beruf angeben und werden dann entweder nach rechts oder nach links verwiesen. Was das nun wieder zu bedeuten hat, sagt man uns nicht. Da Karl-Heinz und ich im gleichen Alter und beide "Schüler" sind, werden wir zusammen nach links geschickt.

 

Dabei werden rechts und links Gruppen gebildet, die, sobald die Zahl 100 erreicht ist, dann abmarschieren. Als die Gruppe, in die wir beiden eingegliedert werden, vollzählig ist, bringt uns ein Posten in ein Lager, wo wir gleich am Tore mit Namen und Dienstgrad in einer Liste erfaßt werden. Dann müssen wir dieses Cage wieder verlassen und werden in verschiedene andere Cages eingewiesen. Dabei kommen wir beiden nach "AREA B" - "GROUP 2 B" - "CAGE 25" und werden dort der 5. Hundertschaft in der 2. Tausendschaft zugeteilt. Im Laufe des Tages wächst die Besetzung wieder auf drei volle Tausendschaften an. Was das alles soll, ist uns völlig schleierhaft. Wir haben fast den Eindruck, als würde die Armeebürokratie ihren Schabernack mit uns treiben.

 

Offenbar gehört dieses Lager zu den älteren Käfigen, denn es ist übersät mit Erdlöchern, hat zwar ein Latrinen- und ein Sani-Zelt, aber keine Wasserleitung. Karl-Heinz und ich suchen uns ein Vier-Mann-Loch aus, das einigermaßen in Ordnung und als Abdeckung mit einer Art Kuppel aus Stacheldrahtgeflecht versehen ist. Darüber spannen wir nun die Zeltbahn, die Karl-Heinz bis hierher gerettet hat. Sie bedeckt zwar nicht das ganze Loch, wohl aber den größten Teil, so daß sie uns ausreichenden Regen- und Sonnenschutz bietet. Das Loch ist so tief, daß wir darin bequem aufrecht sitzen können.

 

So werden wir in dieser Woche ständig in Bewegung gehalten, ohne daß man einen plausiblen Plan dahinter erkennen könnte. Wir werden immer wieder nach anderen Kriterien sortiert und dabei derart durcheinander gewürfelt, daß auch die letzten geschlossenen Einheiten zerschlagen werden und wir beiden froh sein müssen, daß wir als alte Bekannte noch beisammen sind. Die meisten finden sich allerdings unter lauter Unbekannten wieder, was natürlich ein Gefühl der Unsicherheit und Hilflosigkeit auslöst, so daß die Stimmung von Tag zu Tag mieser wird.

 

Daß die Stimmung sich ständig verschlechtert, wird auch noch dadurch gefördert, daß ein neuer Grundton in die "Parolen" gekommen ist. Während bisher ausschließlich von unserer Entlassung die Rede war, taucht nun plötzlich das Thema "Arbeitseinsatz in Frankreich" auf. Dadurch werden wir nur noch mehr verunsichert und eingeschüchtert. Ja, die Vorstellung, unter Mißachtung der Genfer Konvention an die Franzosen übergeben zu werden, löst bei uns wahre Alpträume und Horrorvorstellungen aus, die uns bis in die Nächte verfolgen.

 

Am Samstag (02.06.) sitzen wir den ganzen Tag in der Sonne und brüten dumpf vor uns hin, denn in Sachen Entlassung tut sich überhaupt nichts. Es gibt keine Lautsprecherdurchsagen und auch keine neuen Parolen. Da wir hier keine Gelegenheit zum Kochen haben, müssen wir wohl oder übel auch die Verpflegung in den Zustande verzehren, in dem wir sie bekommen.

 

Ebenso trostlos beginnt der Sonntag (03.06.). Man scheint uns völlig vergessen zu haben. Auch in den anderen Cages, die wir von hier uns überblicken können, scheint das Leben erstorben zu sein. Das einzig Positive ist das anhaltend gute Wetter, das uns wenigstens vor Schwierigkeiten bei der Übernachtung und anderen Beschwernissen bewahrt. So sitzen die meisten nach der Morgentoilette untätig herum und dösen vor sich hin. Da die Stimmung auf dem Nullpunkt angekommen ist, hat niemand Lust, sich mit jemand anderem zu unterhalten.

 

Gegen 11 Uhr kommt dann plötzlich Unruhe in unseren Käfig. Mit einem Landrover rückt ein Trupp Sanitäter an, um uns zu entlausen. Obwohl niemand von uns Läuse hat, werden wir wieder mit einer Flitspritze in eine Giftwolke gehüllt. Und weil der Ami offenbar panische Angst vor Epidemien hat, wird die ganze Prozedur am Montag (04.06.) noch einmal wiederholt. Dann können wir zusehen, wie wir das im Übermaß verwendete DDT-Pulver wieder aus der Nase, den Ohren, den Haaren und der Kleidung bekommen.

 

Mit der Abendverpflegung werden heute einige Exemplare einer Remagener Lokalzeitung verteilt. Da es endlos lange dauern würde, bis jeder die Zeitung in die Hand bekommt, bilden wir kleinere Gruppen, in denen reihum einer nach dem anderen die Meldungen und Artikel vorliest. Doch es ist nichts Erbauliches zu vermelden. In den Zeitungsartikeln geht es hauptsächlich um Anordnungen der Militärregierung, um Lebensmittelzuteilungen oder um die gerade angelaufene "Entnazifizierung", alles Themen, die uns herzlich wenig interessieren. Mit den lokalen Nachrichten können wir rein gar nichts anfangen, denn uns ist es völlig egal, welcher Kommunist irgendwo als Bürgermeister eingesetzt oder wegen Unfähigkeit wieder abgesetzt wurde, oder was sonst eine lokale Meldung wert ist.

 

Nach drei ruhigen Tagen geht der Wirbel in den einzelnen Käfigen dann am Dienstag (05.06.) wieder richtig los. Zwar läßt man uns noch in Ruhe die Morgensonne genießen, aber um 10.30 Uhr ertönt wieder der Lautsprecher. Aufgerufen werden die Bewohner der Provinzen Schleswig und Hannover, das Landes Lippe, sowie der Städte Düsseldorf und Aachen. In unseren Käfig kommt ein Ami mit Dolmetscher, um alle Bewohner der Rheinprovinz namentlich zu erfassen.

 

Der Mittwoch (06.06.) beginnt mit leichtem Nieselregen, der aber bald aufhört und der Sonne wieder den Vortritt läßt. Kurz nach acht Uhr kommt ein Geistlicher ins Lager, um mit uns eine katholische Messe mit Kommunion zu feiern. Auch dieser Gottesdienst wird - sicher nicht zuletzt auch wegen des schönes Wetters - eifrig besucht.

 

Nachmittags hören wir dann, wie im "Cage 22" Westfalen und Rheinländer zum Abtransport aufgerufen werden. Dann sehen wir auch, wie die Gefangenen aus diesen Provinzen auf der Lagerstraße Lkws besteigen und abtransportiert werden. Für unseren Käfig gibt es heute keine Durchsage. Zu allem Überfluß zieht beim Verpflegungsempfang ein kurzes Gewitter auf, wobei ein Teil unseres Loches so naß wird, daß wir es wieder einmal mit Schlafen im Sitzen versuchen müssen.

 

Am Donnerstag (07.06.) scheint wieder die Sonne und der Boden - auch in unserem Loche - wird schnell trocken. Schon am frühen Morgen hören wir den Lautsprecher aus "Cage 22" zu uns herüberdröhnen. Heute werden Rheinländer aufgerufen, und wir hören auch bekannte Namen wie Walter Feikes, Matthias Hassel und Martin Schmidt. Wie wir später erfahren, sind sie innerhalb von zwei Tagen zu Hause. Danach werden Hessen aufgerufen und zu einem Transport zusammengestellt. Zurück bleiben noch einige Hessen und eine größere Anzahl Thüringer. Als auch sie am Freitagmorgen (08.06.) das Lager verlassen, ist "Cage 22" voll- ständig geräumt.

 

So ist der Lautsprecher während der letzten vier Tage mit wenigen Unterbrechungen ständig in Betrieb. Immer wieder andere Landsleute werden aufgerufen und später abtransportiert, so daß verschiedene Käfige bald leer sind und geschlossen werden können.

 

Zur Verpflegung gibt es heute etwas mehr Brot, so daß wir uns nur zu dritt einen Laib Weißbrot teilen müssen. Dafür wird - seit wir im "Cage 25" sind - die übrige Verpflegung immer eintöniger. Auf dem Erdwall neben unserem Loch haben wir eine aus Steinen gebaute Feuerstelle vorgefunden, so daß ich für uns beiden wenigstens etwas erwärmen oder gar kochen kann, während Karl-Heinz sich darauf beschränkt, für Brennmaterial zu sorgen.

 

Am Samstag (09.06.) hören wir, daß im "Cage 23" Westfalen und Rheinländer aufgerufen werden. In unserem Käfig werden nachmittags die Westfalen, Rheinländer, Hannoveraner und Oldenburger gezählt, und wir hoffen, daß dies die Vorstufe für unsere Entlassung ist. Doch darauf folgt für uns keine weitere Durchsage mehr. Am Sonntag (10.06.) ist es zwar bewölkt, aber windig und trocken. Um 8.30 Uhr findet ein evangelischer Gottesdienst statt, ansonsten bleiben wir uns selbst überlassen. Nachdem die Entlassungen offensichtlich in vollem Gange sind, wird die Warterei allmählich unerträglich.

 

Überall sitzen die abgemagerten Gestalten trübsinnig auf den Erdwällen oder in ihren Löchern herum und warten auf die erlösende Lautsprecherdurchsage oder einfach auf den Verpflegungsempfang, das einzige positive Ereignis des Tages. Die ersten vier Wochen hatten wir zwar weniger Platz, aber wir saßen alle in einem Boot, hatten alle dieselben Probleme. Nun aber sind viele schon wieder zu Hause, während wir Zurückgebliebenen immer noch hier im Dreck ausharren müssen. Vor allem vermissen wir Martin sehr, der uns mit seinem tollen Temperament und seinem unerschütterlichen Optimismus immer wieder ermuntert und vor der Verzweiflung bewahrt hat. Er hat uns vor vier Tagen verlassen und ist sicher bereits wieder bei seiner Mutter, während Karl-Heinz und ich immer noch hier herumsitzen und einer ungewissen Zukunft entgegensehen.

 

Jeden Tag sind Transporte zusammengestellt worden und haben das Lager verlassen, während wir den Glücklichen nur sehnsüchtig nachblicken konnten. So ist es kein Wunder, daß sich mit der Stimmung auch der Gesundheitszustand der Gefangenen ständig verschlechtert hat. Aus lebensfrohen jungen Männern sind ausgemergelte, apathische, hagere Gestalten mit leeren Gesichtern in schmutzigen, verschlissenen Uniformen geworden, die oft nur noch vor sich hinstieren und ihre letzte Hoffnung an den Lautsprecher klammern, der zwar während der ganzen Woche ertönt, aber immer nur andere aus diesem Elend erlöst.

 

Es sind allerdings nicht nur freudige Transporte, die das Lager verlassen. Wegen der stellenweisen Überbelegung, der katastrophalen hygienischen Verhältnisse über längere Zeit und der ungünstigen Witterungseinflüsse während der Schlechtwetterperioden, vor allem aber wegen der anhaltenden Unterernährung treten vermehrt Krankheiten auf und verbreiten sich oft mit Windeseile. So gibt es massenhaft Erkältungskrankheiten, Durchfall und Ruhr, aber auch Lungenentzündung, Typhus, Wundstarrkrampf, Blutvergiftung oder völlige physische Erschöpfung, alles Krankheiten, die kaum behandelt werden und daher oft zum Tode führen. Diese Transporte des Todes werden vorwiegend im Schutze der Dunkelheit durchgeführt und können dennoch kaum verheimlicht werden. Und es sind nicht wenige Gefangene, die auf diese Weise umkommen. Ein Bericht der 12th US Army Group weist allein für die Zeit vom 1. bis 10.Juni 1945 in den Lagern am Rhein 138.136 "other losses" aus.

 

Diese Transporte werden von den meisten Zurückbleibenden völlig teilnahmslos zur Kenntnis genommen. Durch die Unterernährung und die trostlose Umgebung, in der wir dahinvegetieren, sind wir völlig abgestumpft: was gehen uns die Toten an, die wir weder jemals gesehen, geschweige denn gekannt haben? Sicher, wenn einer unserer Kameraden umkam, war es anders. Da waren wir uns klar darüber, daß der Tod ganz nahe war und auch uns selbst erreichen konnte. Das Schicksal völlig Fremder aber berührt uns überhaupt nicht . . . es ist ja so weit weg.

 

Am trüben Montagmorgen (11.06.) um acht Uhr wird unser Grübeln durch den Lautsprecher unterbrochen. Thüringer und Westfalen werden aufgefordert, mit Gepäck zum Lagertor zu kommen. Wieder flammt die Hoffnung auf eine baldige Entlassung auf, doch am Lagertor stehen abermals keine Lkws, um uns abzuholen. Vielmehr müssen wir zum Nachbar-"Cage 26" marschieren. Hier sieht es etwas anders aus als in unserem Käfig, denn dieses Cage ist - wie man uns sagt - zum Entlassungs-Camp hergerichtet worden. Zu diesem Zweck hat man ein großes Zelt errichtet, in dem die angebliche "Entlassungskommission" sitzt.

 

Sie setzt sich zusammen aus Politoffizieren und Experten für "Psychological Warfare" und "Re-education" (Psychologische Kriegführung und Umerziehung). Sie sprechen durchweg gutes Deutsch und haben die Aufgabe "Naziverbrecher" aufzuspüren und auszusondern. Dazu benutzen sie Unterlagen aus deutschen Verwaltungs- und Parteidienststellen, mit denen sie die Aussagen der Befragten vergleichen und auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen können. Des- halb werden wir zuerst nach Wohnorten, Kreisen und Regierungsbezirken sortiert, bevor wir das Zelt betreten dürfen.

 

Die Durchschleusung beginnt dann mit der Vernehmung der Thüringer. Die inquisitorische Befragung erfordert natürlich ihre Zeit, und es ist bereits Mittag, als die letzten Thüringer das Zelt verlassen. Zu allem Überfluß fängt es auch noch an zu regnen, so daß das Warten nur noch unerträglicher wird. Wir können kaum noch stehen, als die ersten Westfalen aufgerufen werden. Doch der große Haufen schrumpft mehr und mehr zusammen, und es sind keine Hundert Mann mehr vor uns, als die Befragung plötzlich abgebrochen wird. Mit dem Hinweis, daß sie am Dienstagmorgen (12.06.) fortgesetzt wird, verstummt der Lautsprecher für heute.

 

Da es bereits 17 Uhr vorbei ist, nehmen wir an, daß es jetzt Verpflegung gibt. Doch es rührt sich nichts. Die Verpflegungsausgabe fällt aus, weil man angeblich nicht feststellen kann, wieviele Personen sich im "Cage 26" befinden. Und das sollen wir bei der peniblen Buchführung der Armeebürokraten glauben? Wir haben eher den Eindruck, daß man sich wieder einmal einen üblen Scherz mit uns erlaubt.

 

Wenigstens hört der Regen auf, so daß wir uns nach einem geeigneten Loch für die Nacht umsehen können. Doch hier gibt es nur Löcher, in die es hineingeregnet hat, und auf matschigem Boden läßt es sich nun einmal schlecht schlafen. Doch dann werden wir aller diesbezüglichen Sorgen enthoben, denn es kommt ein Offizier mit einem Dolmetscher in unseren Käfig, der die Namen aller Gefangenen vorliest, die heute morgen aus "Cage 25" hierher gekommen sind. Seltsam! Mit einem Mal kennt man nicht nur unsere Zahl, sondern sogar unsere Namen.

 

Wir müssen in Fünferreihen auf der Lagerstraße antreten, denn es soll ein 2000-Mann-Transport zusammengestellt werden, der noch heute abend das Lager verlassen soll. Das verändert unsere Lage schlagartig und läßt auch gleich die Hoffnung auf eine baldige Entlassung aufkommen. Endlich ist es soweit, und wir können diese unwirtliche Gegend für immer verlassen. Einige ganz Unbekümmerte und Fatalisten lassen alles zurück, was sie irgendwie belasten könnte. Die meisten aber sind - wie Karl-Heinz und ich - etwas vorsichtiger. Man kann ja nie wissen, was noch kommen mag. So haben sich einige sogar ihr Lageröfchen an den Gürtel gebunden. Doch bevor der Transport endgültig zusammengestellt wird, werden wir erst einmal grob gefilzt, und manchem stehen die Tränen in den Augen, als sie ihre Schätze, die man unter normalen Umständen schlicht als "Gelumpe" bezeichnen könnte, abgeben müssen.

 

Nachdem wir ein paarmal gezählt worden sind, verlassen wir das Lager und marschieren hinaus zum Bahngelände in der Nähe von Bodendorf. Hier steht ein langer Zug mit offenen Waggons für uns bereit. Wir werden zu je 50 Mann in einen Waggon verfrachtet, die Posten machen noch einige Kontrollgänge, dann gibt der Lokführer ein Pfeifsignal und der Zug setzt sich in Bewegung.

 

Trotz knurrender Mägen sind wir froh, daß wir dieses "Gräberfeld" von Remagen für immer verlassen können. Diese Bezeichnung hat sich unter uns eingebürgert, seit einige in ihren Löchern durch Wassereinbruch oder Erdrutsch verschüttet oder in der Nacht "aus Versehen" einfach mit Bulldozern zugeschoben und lebend beerdigt worden sind. Wenn wir im Vorbeifahren auf das Lager zurückblicken, so sehen wir eine Landschaft, die wir Landser gestaltet haben, und die man sich als Außenstehender überhaupt nicht vorstellen kann, denn so etwas hat es noch nie gegeben. Sie erinnert an eine apokalyptische Gegend, in der gerade die Auferstehung der Toten stattgefunden hat.

 

Uns kommt es fast wie ein Wunder vor, daß wir in dieser Mondlandschaft, in diesem Dreck und Schlamm, ohne Obdach Wind und Wetter ausgesetzt, und bei kärglichster Verpflegung, die zudem noch in rohem Zustande verabreicht wurde, überhaupt sieben Wochen gesund überleben konnten. Und nun ist natürlich unsere Hoffnung groß, daß dieser Alptraum, der sich Kriegsgefangenschaft nennt, bald zu Ende geht.

 

Heinz Heidt, Am Weinberg 29, 32756 Detmold

 

Auszug aus dem neuen Buch von Heinz Heidt. Tagebuch einer Kriegsgefangenschaft, 418 Tage im Gewahrsam der US-Army, Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung des Germania-Verlags, Postfach 101117, D-69451 Weinheim", www.Germania-Verlag.de

 

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