Reinhard Uhle-Wettler 23669 Timmendorfer Strand, den 20.03.2004
Brigadegeneral a.D.
Mein Vater lag beim Zusammenbruch im April 1945 in der „Westschule“ in Jena, die als Lazarett diente. Er hatte sich als Verwundeter dorthin verlegen lassen, da unsere Familie dort wohnte. Die Verwundung (Splitter im rechten Ellenbogengelenk mit Entzündung und späterer Steifheit) hatte er als Regimentskommandeur im Range eines Obersten bei der Invasion in der Normandie erhalten. Auf seinem Zimmer lag unter anderen ein Kapitänleutnant der Marine, der nach Torpedierung im Wasser treibend durch das Feuer der Besatzung eines britischen U-Bootjägers eine fürchterliche Kieferverletzung hatte. Ein weiterer Zimmerkamerad war ein Hauptmann der Infanterie und Ritterkreuzträger, dem ein Bein amputiert worden war.
Bevor die US-Amerikaner im Juli 1945 Thüringen an die Sowjets übergaben, räumten Sie das Lazarett. Ich sehe noch heute den Elendszug dieser Verwundeten, die zum Sammelpunkt, dem örtlichen Lyzeum, marschieren mußten. Dort übergab mir mein Vater, der das Bevorstehende wohl ahnte, seinen Ehering, mit dem Auftrag, ihn unserer Mutter zu übergeben. Die spätere Suche nach dem Verbleib der „Gefangenen“ verlief ergebnislos. Sie waren mit unbekanntem Ziel abtransportiert worden.
Mein Vater, Jahrgang 1895, Kriegsfreiwilliger 1914 und Offizier noch der Alten Armee, hat von sich aus niemals über seine Gefangenschaft gesprochen. Noch in Jena erfuhren wir durch einen entlassenen Zahlmeister, daß er mit Hungerödemen und sogenannten „Wasserbeinen“ in ein Lazarett eingeliefert worden sei.
Nach der „Familienzusammenführung“, Flucht mit zwei „Bollerwagen“ über die grüne Grenze in den Westen, war weder Zeit noch Gelegenheit, „Kriegsgeschichte“ zu betreiben. Besonders die älteren Offiziere waren ausgegrenzt, erhielten keine Pension und quälten sich mit Gelegenheitsjobs und Arbeitslosengeld durch das Leben und für das Überleben. Jahre später antwortete mir mein Vater sehr kurz und einsilbig auf meine ausdrücklichen Fragen nach seiner Gefangenschaft im Lager Kreuznach/Bretzenheim folgendes:
- Wir lagen neun Wochen im strömenden Regen auf dem blanken Acker;
- 14-jährige Hitlerjungs und 60-jährige Volkssturmmänner verreckten in ihrem eigenen Kot;
- eine Frau, die Brot über den Stacheldrahtzaun werfen wollte, wurde beschossen;
- das Angebot eines Bürgermeisters aus einem Nachbarort, sein Festzelt für die Kranken und Schwachen aufzustellen, wurde abgelehnt;
- dem oberschenkelamputierten Infanteriehauptmann, dem man einen leeren Marmeladeneimer beschafft hatte, wurde dieser weggenommen; er stand wie ein Storch im Schlamm;
- es gab Männer, die ihren Ehering für eine letzte Zigarette anboten, dann wollten sie Schluß machen.
Später, Ende der 40er oder Anfang der 50erJahre fand ich in der damals existierenden Zeitschrift „Frankfurter Illustrierte“ eine Fortsetzungsserie „Das verfluchte Lager Kreuznach“, welche die Aussagen meines Vaters ergänzte und inhaltlich bestätigte.
In dem Buch des amerikanischen Diplomaten Robert Murphy „Diplomat Among Warriors“
(„Diplomat unter Kriegern“), das ins Deutsche übersetzt worden ist und auch von James Bacque erwähnt wird, spricht der Autor bezüglich der Rheinwiesen von amerikanischer „Selbstjustiz“.
Deutsche zeitgenössische Historiker pflegen von „Versorgungsengpässen“ zu reden.
Die Opfer dieser „Selbstjustiz“ liegen zu vielen Zigtausenden auf den umliegenden Ehrenfriedhöfen.
Als ein mir nahestehender Kommandeur eines US-Aufklärungsregimentes mir 1984 Bemerkungen über deutsche Konzentrationslager machte und ich ihm den hier geschilderten Sachverhalt schilderte, entschuldigte er sich für seine Unkenntnis und versicherte mir, das Thema künftig zu vermeiden.
Reinhard Uhle-Wettler