Der Brief eines Enkels

 

Einen Erlebnisbericht meines Großvaters gibt es als Lagerinsasse nicht, weil er nie etwas erzählt hatte. Es hat ihn auch niemand gefragt, weil sich niemand von uns für sein Schicksal interessiert hatte, ganz besonders meine Mutter nicht, die es nach der Charakterwäsche der Nachkriegszeit eh nicht hätte glauben können, daß deutsche Gefangene es auch nicht besser hatten als Juden.
 
Er war für sie der doofe Alte mit den Kommunikationsschwierigkeiten. Als in den 80ern ein Bundesbruder meines Vaters, ein ehemaliger preußischer Offizier, die damals neu erschienenen Zeitungsartikel zum Thema der Rheinwiesen entsprechend kommentierte, hatte man an alles mögliche gedacht, aber nicht an meinen Großvater. Niemand machte die Anwendung auf ihn.
 
So blieb er, was er war. Wortscheu, ungesellig, usw.
 
Erst sehr spät kam er mit unzusammenhängenden Einzelheiten:
 
die Gefangennahme, die für ihn relativ simpel verlief usw., dann aber war er Zeuge, wie auch ein Hospital geräumt wurde. Versehrte, denen beide Beine amputiert worden waren, wurden mit Gewehrkolben zum Kriechen gezwungen. Die Ankunft im Lager unter freiem Himmel, dann erzählte er nicht mehr weiter.
 
Er kam 1946 aus dem Lager zurück und fand eine Tochter vor, die schon 4 Jahre alt war. Er konnte sich ihr emotional nicht zuwenden. Sie wurde weder geschlagen noch gestreichelt. Ein anonymes Verhältnis. Als in den 50ern die Sendungen im Fernsehen über die Judenverfolgung kamen und meine Mutter heulend vor der Kiste lag und ihren Vater verfluchte, konnte er schlecht sagen, daß er das am eigenen Leib erlebt hatte. Seltsamerweise weiß ich viel von seinen Kriegserlebnissen aus Rußland, einschließlich der Verwundung. Ich weiß auch, daß er die Russen geachtet hatte, aber die Amerikaner verabscheute er, ohne von ihnen viel zu reden. Ich weiß, daß die schwarzen Bewacher Brot gaben, die Weißen aber ohne Mitleid waren.
 
Andeutungen von Lagererlebnissen wurden von meiner Mutter vor mir als unwesentlich abgetan. Als mein Großvater 1995 starb, wurde ihm der Grabstein vorenthalten. Als ich an meine Eltern den Kostenvoranschlag eines Steinmetzes schickte, wurde mir und dem Steinmetz mit Klage gedroht. Erst meine Schwester setzte Jahre später den Grabstein durch, bzw. weiß ich nicht, ob sie es ohne Wissen meiner Eltern in die Wege geleitet hatte. Ich habe zu meinen Eltern keinen Kontakt mehr, denn leider lehnt besonders meine Mutter meine Frau ab.
 
 
Dipl.Ing.Thilo Stopka
 
44300 Nantes

 

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