Binger Geschichtsblätter, hrg. von der Historischen Gesellschaft Bingen e.V. Heinz Bucher Kriegsgefangenenlager in der Umgebung von Bingen Auszüge aus dem Gesamtbericht: http://www.utlpr.univ-rennes1.fr/prisonniers/site-pga/versionge1/bucher-ge.htm DAS KRIEGSGEFANGENENLAGER IN DIETERSHEIM Ende April 1945 ebneten amerikanische Pioniere ein riesiges Areal mit großen Planierraupen ein. Doppelter Stacheldrahtzaun und Wachtürme wurden errichtet, das Gelände in 25 Camps unterteilt. Rücksichtslos wurden die Felder durchpflügt und Lagerstraßen angelegt. Die Grenzen des Lagers verliefen etwa östlich von Dietersheim, dann am früheren Bahndamm Münster-Sarmsheim - Hindenburgbrücke entlang zur Dromenheimer Chaussee. Daselbst bis in die Nähe der Bahnstation Rüdesheim-Dromersheim. Vor Sponsheim verlief die Grenze an der Landstraße 114 westwärts zum Zufahrtsweg der Sponsheimer Mühle bis vor Grolsheim und zur Nahe bei Dietersheim. Die Fläche betrug etwa 500 ha. Somit konnte fast die gesamte Gemarkung der Gemeinden Dietersheim und Sponsheim nicht mehr landwirtschaftlich genutzt werden. Die anstehende Ernte war zum größten Teil vernichtet und das in einer Zeit großer Not der Zivilbevö1kerung. Bereits wenige Tage nach Einrichtung des Lagers trafen die ersten Gefangenentransporte ein. Bis Mitte Mai war das Lager mit etwa 75 000 bis 85 000 Gefangenen belegt. Diese Zahl erhöhte sich zeitweilig auf über 100 000. Im Lager waren die verschiedensten Menschen versammelt; ungarische und rumänische Soldaten, Frauen, Kinder, Kriegsversehrte und Männer, die über 70 Jahre alt waren. Wie schon gesagt, war die Versorgung der Gefangenen in den ersten Wochen katastrophal. Sie holten sich die in den Camps vorhandenen unreifen Früchte, Blätter von den Bäumen sowie Gras und kochten mit stark chlorhaltigem Wasser, das von der Nahe in einer Röhrenleitung zum Lager gepumpt wurde, eine kaum genießbare Suppe. Die von Durchfällen geplagten Menschen mußten auf Balken, die über Erdlöchern angebracht waren, ihre Notdurft verrichten. ...... Ein Auszug aus dem Erlebnisbericht von Prof. Dr. Carl Schneider: Nacht. Neben mir liegt Jakobi. Zwei Tage hat es nun schon geregnet. Wir haben kein Zelt, keine Decke. Eine Gasplane und ein alter Mantel schützen uns noch notdürftig. Heute konnte ich zum ersten Male nicht mehr aufstehen. Wie soll man morgen noch Wasser holen? Zu essen gab es heute zwar eine Handvoll Erbsen, aber wir konnten sie nicht kochen - kein Holz. Tausende um uns, denen es ebenso geht... Werden wir verhungern, verdursten oder erschossen? Es ist jetzt alles gleich. Erst von Mitte Mai an wurden wenige Lebensmittel ausgeteilt, und zwar löffelweise Erbsen, Bohnen, Reis, Milchpulver, Eipulver und pro Mann etwa 50 g Dosenfleisch. Die Gefangenen mußten sieh selbst das Essen zubereiten. Weinbergspfähle und Bäume dienten ais Brennholz. In ihrer Bedrängnis versuchten viele durch den Stacheldraht zu flüchten. Sie wurden von den Lagerwachen beschossen, einige dabei getötet. Aus der Zeit des Lagers stammen auch die sogenannten "Hungerbriefe", deren Sammlung der Dietersheimer Pfarrer Otto aufbewahrt. Verzweifelte Hilferufe richteten die Gefangenen hiermit an die Bevölkerung: Ich bin als Kriegsgefangener hier im Lager untergebracht. Von Verwundung geheilt, hat mich ein Herzleiden und Thrombose und die für meinen kranken Körper unzureichende Kost völlig heruntergebracht. Mit Küchen - und Obstabfällen wäre ich herzlich gerne zufrieden. Meine Bitte entspringt wirklicher Not und bitte ehrlich um weiter nichts als um Abfälle, die meine Kameraden mir hier kochen würden... Durch eine vorangegangene schwere Krankheit und der anschließenden 4-monatigen Gefangenschaft bin ich körperlich sehr herunter und liege wegen Unterernährung hier im Krankenrevier. Da meine Eltern in Berlin wohnen, können sie mir leider keine Hilfe zuteil werden lassen. Ich bitte Sie, einem gutherzigen Menschen meine Anschrift zu geben und um eine kleine Liebesgabe für mich zu bitten. Wären Sie so freundlich. und würden mir einige alte Kartoffeln, Weizen- oder Gerstenkörner oder sonst eine kleine Gabe schicken. Ich wäre Ihnen so dankbar.... Seien Sie gegrüßt von Ihrem hungrigen R.B., Lager 3 Wenn man 16 Monate von seinen Lieben weg ist, davon die ganze Zeit ohne ein Paket, 6 Monate keine Post, 3 Monate harte Gefangenschaft, kein einziger guter Tag, nur Hunger, von einem Lager ins andere gewandert, würden Sie ermessen können, was das für ein Leidensweg ist .... .. Der Verfasser (Heinz Bucher) war von Anfang Juni bis zum 17. 07. 1945 im Lager Dietersheim. Sein Bericht ist nachfolgend aufgezeichnet: Anfang Juni bis Mitte Juli im Lager Dietersheim Von Verpflegung war in den ersten Tagen nichts zu sehen. Obwohl ich vom letzten Lager (Namur) nicht verwöhnt war, bekam ich Magenkrämpfe vor Hunger. Das Wetter war wechselhaft. Nach Hitze folgten heftige Gewitter mit Sturmböen und wolkenbruchartigen Regenfällen. Da die Zeltplanen bei der Gefangennahme einbehalten wurden, hatten wir keinen Schutz vor den Launen der Witterung. Mit bloßen Händen gruben wir Erdlöcher, um darin einigermaßen geborgen zu sein. An heißen Tagen suchten wir Schatten in diesen Löchern. Wenn Wind aufkam, war über dem Lager eine einzige Staubwolke. Das knappe und trübe Wasser löschte kaum, den Durst. Nach einiger Zeit wurde auch Verpflegung ausgeteilt. Je ein Löffel Milchpulver, Eipulver, Bohnen und Kaffee. Das Ganze, in einer mit gelbbraunern Wasser gefüllten 5-Literdose gekocht, ergab ein "wunderbar" schmeckendes Abmagerungsmenü. Manche hatten das Glück, daß sie bei ihrer Gefangennahme nicht ausgeplündert wurden. Sie hatten noch die Armbanduhr und den Ehering Diese Gegenstände waren bei den Amerikanern willkommene Tauschobjekte. Ein paar Zigaretten für eine Uhr oder einen Ehering. Das Rauchen unterdrückte eine Zeitlang den Hunger - Lebensmittel wurden nicht getauscht. Täglich hörten wir vom Rande des Lagers Schüsse. Es ging das Gerücht um, die Schüsse würden auf fliehende Gefangene abgefeuert. Wir erführen von Mitgefangenen aus anderen Camps, daß sogar auf Zivilisten, die Lebensmittel durch den Zaun reichen wollten, geschossen worden sei. Ich hörte wohl auch sehr oft Schüsse, aber weshalb geschossen wurde, konnte ich nicht erkennen, da ich mich nicht in der Nähe des Lagerzaunes befand. Die verstorbenen Menschen wurden nachts heimlich zum Lagertor gebracht und mit LKWs abtransportiert. Wo man sie begrub, erfuhren wir nicht. Es verlautete, man habe sie in Daxweiler beigesetzt. Die Amerikaner hatten zwecks besserer Verständigung und Aufrechterhaltung einer gewissen Ordnung deutsche Gefangene - meistens höhere Dienstgrade zur Lagerleitung eingesetzt. Darunter solche, die es verstanden hatten, ganz schnell "das Hemd zu wechseln". Statt den Hungernden in ihrer Not beizustehen, machten sie sich unbeliebt, da sie die Anordnungen der Amerikaner hart durchsetzten. ......... Frauen von Dietersheim und den umliegenden Orten versuchten immer wieder, Lebensmittel ins Lager zu bringen; dies war von den Amerikanern streng untersagt. Die Helferinnen wurden oft durch Warnschüsse der Lagerwachen vertrieben. Dazu zwei Veröffentlichungen der Kreisverwaltung Bingen: 28. Mai 1945. Betreffend: Verabreichung von Nahrungsmitteln an deutsche Kriegsgefangene durch die Zivilbevölkerung. Mitteilung Nr. 9. An die Bürgermeister des Kreises. Auf Anordnung der Militärregierung ist es allen Bewohnern des Kreises Bingen mit sofortiger Wirkung streng verboten, irgendwelche Nahrungsmittel an deutsche Kriegsgefangene zu verabreichen. Nahrungsmittel, die von der Bevölkerung den Kriegsgefangenen verabreicht werden, werden den ausländischen Zwangsarbeitern zugeführt. Deutsche Kriegsgefangene werden von dem amerikanischen Militär verpflegt und brauchen keine Nahrungsmittel von der Bevölkerung. gez.: Dr. Frhr. v. Frentz Ein weiterer Brief der Kreisverwaltung: 29. Mai 1945 Betreffend: Kriegsgefangenenlager. An die Bürgermeister des Kreises. Es besteht Veranlassung darauf hinzuweisen, daß es der Zivilbevölkerung verboten ist, sich in der Nähe von Kriegsgefangenenlagern aufzuhalten. Auch mehren sich die Fälle, in denen Zivilpersonen versuchen, den Gefangenen Gebrauchsgegenstände und dergl. zu geben, was für die Gefangenen und die Bevölkerung unangenehme Folgen haben kann. Gebrauchsgegenstände für deutsche Soldaten können beim Roten Kreuz oder bei der jeweiligen Bürgermeisterei zur Weiterleitung dorthin abgegeben werden. ich ersuche, diese Bekanntmachung in ortsüblicher Weise zu veröffentlichen. gez.: Dr. Frhr. v. Frentz Die Bevölkerung ließ sich durch diese Anordnungen aber nicht einschüchtern. Trotz des Risikos wurde immer wieder versucht - oft auch mit Erfolg - Lebensmittel ins Lager zu schmuggeln. Nachfolgend Aussagen von Zeitzeugen: Frau Elisabeth Walter, geb. Kaltwasser, Frau Freya Hammer, geb. Kaltwasser, beide 1945 wohnhaft in Bingen, Burggraben, berichteten von eigenen Erlebnissen im Zusammenhang mit dem Gefangenenlager in Dietersheim. Nach Bekanntwerden. des Elends im Lager Dietersheim brachten sie - wie viele andere Frauen, Lebensmittel. Sie versuchten, diese am Stacheldrahtzaun den Gefangenen zu übergeben. Dabei wurden Sie mehrmals von den Lagerwachen beschossen. Einmal pfiffen die Kugeln dicht an ihren Köpfen vorbei. |